Viele Tierarten wandern Jahr für Jahr lange Strecken zwischen den Gebieten, in denen sie ihren Nachwuchs aufziehen, und den Regionen, in denen sie den Winter verbringen. Diese Migration kostet viel Energie und birgt hohe Risiken – und muss dennoch für die Arten einen evolutionären Vorteil bedeuten. Was unterscheidet wandernde Arten von sesshaften Verwandten? Um das herauszufinden, haben Forscher die Lebensspanne, Reproduktionszeit und Fortpflanzungsstrategie von wandernden und sesshaften Vögeln und Säugetieren weltweit verglichen. Das Ergebnis: Wandernde Tiere haben eine geringere Lebenserwartung, gleichen diese aber durch einen verstärkten Fokus auf Reproduktion aus.
Zugvögel legen teils zehntausende Kilometer im Jahr zurück, um von ihren Winterquartieren im Süden zu ihren Brutstätten in nördlicheren Gefilden zu gelangen und zurück. Auch unter Säugetieren gibt es zahlreiche wandernde Arten von Rentieren bis Blauwalen. Warum sich Tiere auf Wanderschaft begeben, ist wissenschaftlich nach wie vor nicht vollständig geklärt. Wichtige Gründe sind saisonale Klimaschwankungen mit unterschiedlichem Nahrungsangebot, sowie das Vermeiden von Konkurrenz und Krankheiten. Doch wie gleicht das die hohen Risiken und Energiekosten weiter Wanderungen aus? Warum pflegen manche Arten einen wandernden Lebensstil, während es sich für andere als vorteilhafter erweist, an einem Ort zu bleiben und sich den dortigen Gegebenheiten anzupassen?
Reproduktion wichtiger als individuelles Überleben
Diese Fragen hat ein Team um Andrea Soriano-Redondo von der University of Exeter untersucht. Für über 700 Vogel- und 540 Säugetierarten aus allen Teilen der Welt verglichen die Forscher die Lebensdauer, das Alter der sexuellen Reife und die Entwicklungsdauer der Jungtiere. Außerdem erhoben sie, wie oft im Jahr sich die jeweiligen Spezies fortpflanzen und wie viele Nachkommen dabei durchschnittlich entstehen. Diese Daten setzten sie in Beziehung zu Körpergröße und Lebensraum der Tiere.
Dabei zeigte sich: Im Vergleich zu verwandten sesshaften Arten leben wandernde Spezies durchschnittlich kürzer, werden früher geschlechtsreif und produzieren schneller mehr Nachkommen. „Indem sie die Reproduktion stärker priorisieren als das Überleben, haben Spezies mit einem schnellen Lebenslauf das Potenzial, ihre Anzahl schnell zu erhöhen und so das Risiko auszugleichen, dass viele Individuen während der Reise sterben“, erläutern die Forscher. „Die kürzere Lebensspanne der wandernden Arten könnte ein unvermeidbares Resultat ihres kräftezehrenden Lebensstils und erhöhter zufälliger Mortalität sein.“
Große und kleine Wanderer
Die Untersuchungen ergaben außerdem einen Zusammenhang zwischen Migrationsverhalten und Körpergröße, und zwar abhängig von der Fortbewegungsart. Während sich bei fliegenden Spezies wie Vögeln und Fledermäusen eher kleine Arten auf Wanderschaft begeben, ist es bei gehenden und schwimmenden Säugetieren umgekehrt. „Das hängt wahrscheinlich mit der Biomechanik zusammen“, schreiben die Forscher.
Für Landtiere erhöht sich die Reisegeschwindigkeit mit der Körpergröße. Ein größerer Körper braucht zwar mehr Energie, kann aber auch mehr Reserven speichern. „Nur große Tiere können genug Energie speichern, um lange Wanderstrecken gehend in angemessener Zeit zurückzulegen“, erklären die Forscher. Ähnliche Effekte zeigen sich – wenn auch schwächer – bei schwimmenden Tieren. Für fliegende Tiere dagegen ist der Energieaufwand mit steigendem Körpergewicht ungleich größer, sodass lange Wanderungen in diesem Fall eher für kleinere Arten in Frage kommen.
Anfällig für schlechtes Wetter und Klimaveränderungen
Den Forschern zufolge sind wandernde Tierarten auch besonders anfällig für Klimaveränderungen. „Ungewöhnlich kaltes Wetter in den Brutgebieten kann zu einem Massensterben der Wanderer führen, während sesshafte Arten eher in der Lage sind, den Wetterbedingungen zu trotzen. Überdies gibt es Belege, dass sich die Mortalität auf den Wanderungen durch schlechtes Wetter erhöht.“ Das verringert die Lebenserwartung migrierender Tiere weiter und erhöht den Selektionsdruck zu einem schnelleren Leben.
„Angesichts der möglichen Verbindung zwischen den Umweltbedingungen an den Brutstätten und dem Lebenslauf wandernder Tierarten, ist es sinnvoll, die potenziellen Auswirkungen des Klimawandels zu berücksichtigen“, sagen die Forscher. Schon frühere Studien haben gezeigt, dass viele Zugvögel ihr Verhalten angesichts des Klimawandels verändern. „Die starke Verknüpfung zwischen Wanderverhalten und Lebenstempo, die wir identifiziert haben, bedeutet, dass wandernde Tierarten – insbesondere solche, die sich nicht innerhalb kurzer Zeit anpassen können – lebende Hinweiszeichen für Umweltveränderungen sein könnten.“
Quelle: Andrea Soriano-Redondo (University of Exeter), et al., Nature Communications, doi: 10.1038/s41467-020-19256-0