Laut einer Erhebung des Universitätsklinikums Jena sterben in Deutschland jedes Jahr etwa 60.000 Menschen an einer Sepsis. Damit ist sie nach Herzinfarkt und Krebs eine der häufigsten Todesursachen; auf Intensivstationen sogar die häufigste. Trotzdem glauben die meisten Menschen, sie würden eine Blutvergiftung ganz einfach an einem rotem Strich auf der Haut erkennen. Dieser wandert, wie es auch Astrid Lindgren in “Michel aus Lönneberga” beschreibt, von einer offenen Wunde in Richtung Herz. Tatsächlich ist eine Schnittwunde, wie sie sich Michels Freund Alfred zugezogen hat, nur eine von vielen Auslösern für eine Sepsis.
Hinter einer Blutvergiftung stecken immer Krankheitserreger, in 95 Prozent der Fälle Bakterien, seltener Pilze oder Parasiten. Unter normalen Umständen bekämpft das Immunsystem diese Erreger und ihre Gifte dort, wo sie den Körper befallen haben. So kommt es zwar zu einer lokalen Entzündung, zum Beispiel in der Lunge oder an einer Wunde. Die Erreger gelangen dank der guten Abwehr aber nicht in die Blutbahn. Wenn das Immunsystem jedoch geschwächt ist oder die Bakterien besonders aggressiv sind, können sie ins Blut übergehen und sich so im gesamten Körper ausbreiten. Über eine Art Schneeballeffekt entstehen dann überall im Körper neue Entzündungsherde. Diese Kettenreaktion kann im schlimmsten Fall innerhalb weniger Stunden zu einer schweren Sepsis und dem Versagen verschiedener Organe führen. Im Schnitt überleben nur etwa 60 Prozent der Betroffenen diesen Amoklauf des Immunsystems.
Je früher die Sepsis erkannt wird, desto größer sind die Chancen, sie zu besiegen. Das Problem: Anders als bei einem Schlaganfall oder Herzinfarkt gibt es keine eindeutigen Krankheitszeichen. Denn Unwohlsein, Fieber, Schüttelfrost oder Verwirrtheit können auch aus vielen anderen Gründen vorkommen. Sobald diese Symptome gemeinsam auftreten, kann aber auch eine Sepsis vorliegen. “Wer an einer Infektion leidet und sich sehr plötzlich hundeelend fühlt, wirres Zeug redet und schwer beeinträchtigt ist, gehört ins Krankenhaus”, erklärt Frank Brunkhorst, Oberarzt am Universitätsklinikum Jena. Um einer Sepsis auf die Spur zu kommen, müssen die Ärzte anhand verschiedener Krankheitsanzeichen die richtigen Schlüsse ziehen.
Zu den Symptomen, die auf eine Sepsis hindeuten, zählen ein erhöhter Puls, ein niedriger Blutdruck und eine beschleunigte Atmung. Darüber hinaus kann die Anzahl weißer Blutkörperchen ansteigen oder aber deutlich abfallen. “Eine Sepsis verläuft von Patient zu Patient sehr unterschiedlich”, beschreibt Brunkhorst. Als Generalsekretär der Deutschen Sepsis-Gesellschaft empfiehlt er, bei einem Verdacht auf Sepsis einen weiteren Bluttest durchzuführen: Anhand der Konzentration des Schilddrüsenhormons Procalcitonin lasse sich die Diagnose “Sepsis” absichern. Allerdings kann dieser Blutwert nach einer schweren Operation oder einem Schock ebenfalls erhöht sein, ohne dass tatsächlich eine Sepsis vorliegt.
Haben die behandelnden Ärzte die Sepsis erst einmal als solche erkannt, zählt jede Stunde. “Die effektive Nutzung der Zeit ist das billigste Sepsismedikament, das wir haben”, meint Stefan Hofer von der Anästhesiologischen Universitätsklinik Heidelberg. Je früher der Patient die ersten Antibiotika erhält, desto besser bekämpfen diese die Bakterien. Gleichzeitig müssen die Mediziner herausfinden, wo im Körper der Entzündungsherd liegt. Eine entzündete Gallenblase beispielsweise wird in einer Operation entfernt. Ist aber eine Lungenentzündung die Ursache, können nicht einfach die Lungen herausgenommen werden. In etwa zehn Prozent der Fälle ist der Entzündungsherd überhaupt nicht ausfindig zu machen. Deshalb versuchen Mediziner, die Kettenreaktion auch auf anderen Wegen zu unterbrechen.
“Wir müssen eine Sepsis immer von verschiedenen Ecken aus bekämpfen”, sagt Hofer. “Ein einzelnes Wundermittel wird es nie geben.” Gemeinsam mit seinem Team erforscht er eine neue Behandlungsmethode. Dabei greifen die Wissenschaftler auf einen Wirkstoff zurück, der bereits bei Vergiftungen zum Einsatz kommt: Physostigmin hemmt die Ausschüttung von entzündungsfördernden Botenstoffen und beeinflusst deshalb auch die septische Kettenreaktion. Da die Forscher das bislang nur bei Mäusen zeigen konnten, untersuchen sie im nächsten Jahr erstmals, ob Physostigmin die Sepsis auch bei Menschen bekämpft. Ob sich der Wirkstoff durchsetzen kann, wird sich erst nach vielen weiteren Jahren zeigen.