Distelfalter unternehmen über mehrere Generationen hinweg die längste bisher bekannte Insektenwanderung – von ihren Winterquartieren südlich der Sahara bis nach Skandinavien. Wie viele Exemplare in Europa ankommen, kann von einem Jahr zum anderen um das Hundertfache schwanken. Forscher haben nun untersucht, welche Faktoren die starken Unterschiede in der Populationsgröße bedingen. Die Hauptfaktoren sind demnach Niederschläge in der afrikanischen Savanne und in Nordafrika, die für genug Nahrungspflanzen sorgen, sowie günstige Rückenwinde, von denen sich die Schmetterlinge tragen lassen können.
Ähnlich wie Zugvögel unternehmen auch verschiedene Insektenarten teils lange Wanderungen, um zwischen ihren Winter- und Sommerquartieren zu wechseln. Oft erfolgen die Reisen über mehrere Generationen hinweg, wobei die Bedingungen unterwegs bestimmen, wie gut sich die Insekten vermehren können. Insektenwanderungen haben mitunter massive Auswirkungen auf die Landwirtschaft: Manche Arten dienen als Bestäuber, andere fallen in großer Zahl über die Pflanzen her und können Kahlfraß verursachen. Manche Insekten können zudem Krankheiten übertragen. „Deshalb ist es unerlässlich, dass wir die Bewegungsmuster von Insekten besser verstehen“, betont ein Forschungsteam um Gao Hu von der Agraruniversität von Nanjing in China.
Von Afrika nach Europa
Für die aktuelle Studie haben die Forscher untersucht, wie Distelfalter von Afrika nach Europa wandern und welche Faktoren dabei ihre Populationsgröße bestimmen. „Es ist bekannt, dass die Anzahl der Distelfalter in Europa stark schwankt, manchmal sind es von einem Jahr zum anderen hundertmal mehr“, erläutert Co-Autor Tom Oliver von der University of Reading in Großbritannien. „Die Bedingungen, die dies verursachen, waren jedoch unbekannt, und die Vermutung, dass die Schmetterlinge die Wüste Sahara und die Ozeane queren könnten, um Europa zu erreichen, war nicht bewiesen.“
Um den Voraussetzungen für große Distelfalter-Populationen in Europa auf den Grund zu gehen, werteten die Forscher Daten von Schmetterlingszählungen von 1994 bis 2015 aus und glichen diese mit Wetteraufzeichnungen ab. „Diese Forschung zeigt, dass diese unwahrscheinliche Reise über Wüste und Meer möglich ist und dass bestimmte Klimabedingungen vor der Migrationssaison einen großen Einfluss auf die Anzahl derer haben, die es schaffen“, sagt Oliver. In den 21 untersuchten Jahren gab es fünf, in denen besonders große Schmetterlingspopulationen in Europa ankamen. 1996, 2003, 2006, 2009 und 2015 müssen die Klimabedingungen auf der Reiseroute demnach offenbar besonders günstig für die Distelfalter gewesen sein. Anhand statistischer Modelle berechneten die Forscher, welche klimatischen Faktoren die Populationsschwankungen am besten erklären.
Mit Rückenwind über die Wüste
Zu ihrer Überraschung stellten sie fest, dass ein wichtiger Einflussfaktor offenbar die Niederschläge während der Wintermonate in der Savanne südlich der Sahara sind. „Das ist aus zwei Gründen unerwartet“, schreiben die Autoren. „Erstens ist die Savanne typischerweise im Winter sehr trocken, und so mag es überraschen, dass diese Region scheinbar in bestimmten Jahren eine große Anzahl von Distelfaltern hervorbringt. Zweitens legen unsere Ergebnisse nahe, dass die Schmetterlinge in der Lage sein müssen, die Sahara-Wüste gegen die jahreszeitlich vorherrschenden Winde zu durchqueren – eine enorme Herausforderung für Insekten, die vergleichsweise kurzlebig und flugschwach im Vergleich zu Zugvögeln sind.“
Weitere Analysen und Modellierungen zeigten jedoch, dass es auch im Winter und zeitigen Frühjahr durchaus Winde gibt, die den Distelfaltern ermöglichen, die Sahara mit Rückenwind zu durchqueren. Bei einer Flughöhe von ein bis drei Kilometern könnten die Schmetterlinge so innerhalb von vier Tagen ihr nächstes Brutgebiet in Nordafrika erreichen. Gibt es dort im Frühjahr ebenfalls ausreichend Niederschläge und damit viele Futterpflanzen für die Raupen, können sich die Distelfalter erneut explosionsartig vermehren. Die nächste Generation ist dann in der Lage, dass Mittelmeer zu überqueren und nach Europa zu gelangen.
Die Ergebnisse können auch zum Verständnis anderer Insektenwanderungen beitragen und dabei helfen vorherzusagen, welche Insektenarten in Zukunft aufgrund des Klimawandels in verschiedenen Regionen zu finden sein werden und in welcher Anzahl sie dort eintreffen könnten. „Wir genießen es, die wunderschönen Distelfalter in unseren Gärten in Europa zu sehen, aber der Klimawandel wird auch zu Verschiebungen bei invasiven Arten führen, die Ernteschädlinge sind oder Krankheiten verbreiten“, sagt Oliver.
Quelle: Gao Hu (Nanjing Agricultural University, China) et al., Proceedings of the National Academy of Sciences, doi: 10.1073/pnas.2102762118