Stabil, ausdauernd und erstaunlich bruchfest: Was hinter den erstaunlichen Merkmalen der Insektenflügel steckt, lässt sich auf Technik übertragen, berichten Forscher. Sie zeigen auf, wie die Kombination von flexiblen Gelenken, mechanischen Stoppern und „Abknickbereichen“ Insektenflügel leistungsfähig und stoßfest macht. Durch Nachbildungen dieser Elemente, die sie auf 3D-gedruckte Flugzeugmodelle übertragen haben, konnten sie die Effizienz des Konzepts verdeutlichen. Das Drei-Komponenten-System könnte somit neue Möglichkeiten bei der Entwicklung von technischen Systemen eröffnen, sagen die Forscher.
Libelle, Biene und Co sausen mit erstaunlich leistungsstarker „Leichtbau-Technik“ durch die Luft: Ihre Flügel machen meist gerade einmal zwei Prozent der Gesamtmasse der Insekten aus und dennoch sind die filigranen Gebilde schwer belastbar: Neben den erheblichen aerodynamischen Beanspruchungen halten sie auch teils heftigen Stößen stand. Ohne größeren Schaden überstehen sie so etwa die häufigen Kollisionen mit Hindernissen wie Blüten, Blättern oder Ästen. Solche Leistungskombinationen in Verbindung mit hoher Ausdauer kann die menschliche Technik bisher kaum gewährleisten. Doch wie können sie die Insektenflügel hervorbringen? Mit dieser Frage beschäftigt sich die Arbeitsgruppe „Funktionelle Morphologie und Biomechanik“ an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. In ihrem Fokus stehen dabei die vergleichsweise großen Flügel der Libellen.
Wie die Wissenschaftler erklären, können technische Konstruktionen in der Regel nur eine Eigenschaft effizient gewährleisten: Entweder sie halten große Traglasten aus, wie stabil tragende Bauteile in Gebäuden, oder aber sie sind durch ihre Flexibilität besonders resistent gegenüber Brüchen bei Kollisionen. Ließen sich beide Merkmale besser kombinieren, könnten effizientere technische Strukturen entwickelt werden, die ihre Formbarkeit den jeweiligen Anforderungen anpassen können. Bisherige Ansätze dazu sind jedoch oft kompliziert und kostenintensiv und eignen sich so kaum für einen breiten Einsatz, sagen die Wissenschaftler.
Raffinierte Biomechanik
„Was die ingenieurwissenschaftliche Forschung zurzeit noch beschäftigt, haben Insekten schon lange perfektioniert“, sagt Co-Autor Stanislav Gorb. In der aktuellen Studie zeigen er und seine Kollegen nun die Besonderheiten in der Flügelstruktur der Insekten auf, die der interessanten Merkmalskombination zugrunde liegen. Wie sie berichten, bilden drei Elemente in der Flügelstruktur und ihre Kombination die Basis dafür: flexible Gelenke, mechanische Stopper und „Abknickbereiche“. „Dank dieses besonderen Aufbaus können die Insektenflügel verschiedene Flexibilitätsgrade einnehmen, je nachdem, was die jeweilige Situation erfordert“, sagt Gorb.
Wie die Forscher erklären, bestehen Insektenflügel aus Adern, zwischen denen eine Membran gespannt ist. Dabei verbinden Mikrogelenke die einzelnen Adern und ermöglichen so, dass sich die Flügel unter geringer Last verbiegen können. Diese Elemente gewährleisten auch eine Dauerbelastbarkeit der Struktur, erklären die Forscher. Bei stärkerer Beanspruchung wird die Bewegung dann allerdings von mikroskopisch kleinen Stacheln gestoppt, die an den Mikrogelenken sitzen. Diese „Stopper“ stützen die Flügel gegen starke Belastung, erklären die Forscher. Nummer drei der strukturellen Elemente bilden dann spezielle Bereiche im Flügel, die bei den Kollisionen
mit Hindernissen ins Spiel kommen: Sie ermöglichen durch ihre starke Verformbarkeit ein zerstörungsfreies, reversibles Einknicken, das einen Bruch der Strukturen verhindert. „Dank dieser drei Elemente sind Insekten in der Lage, ihre Flügeleigenschaften anzupassen und so mehrere Funktionen gleichzeitig zu erfüllen“, erklärt Erstautor Ali Khaheshi.
Konzept auf Flugzeugmodelle übertragen
Im Rahmen ihrer Studie haben die Forscher diese biomechanischen Elemente künstlich nachgebildet und konnten dabei deren Effizienz und technisches Potenzial verdeutlichen. Sie übertrugen die Elemente dazu auf etwa acht Zentimeter große und 3,8 Gramm schwere Flugzeugmodelle, die sie per 3D-Druck hergestellten. Das Verfahren ermöglichte es, die Flügel mit funktionalen Nachbildungen der Mikrogelenke, Stopper und Knickbereiche der Insektenflügel auszurüsten (siehe Abbildung). Diese Modelle sowie Kontrollen ohne die Elemente unterzogen die Forscher anschließend verschiedenen Belastungsexperimenten. Dabei ließen sie die Modelle auch gegen Hindernisse und auf den Boden knallen.
So zeigte sich, dass die Flügel mit den biologisch inspirierten Elementen die Zusammenstöße überstanden, während auf herkömmliche Weise konstruierte Flugzeugmodelle zerbrachen. Zusätzlich testeten die Wissenschaftler verschiedene abgewandelte Konstruktionen, bei denen sie jeweils eines der drei Konstruktionselemente wegließen. „Diese Experimente bestätigen, dass alle drei Elemente zusammen nötig sind, um die Merkmalskombination zu gewährleisten“, berichtet Khaheshi.
Wie die Wissenschaftler hervorheben, verdeutlicht die Umsetzbarkeit des biologischen Konzepts in ein technisches nun das Potenzial für die Entwicklung von Anwendungen. Der besonders interessante Aspekt des biologisch inspirierten Systems ist dabei, dass die Strategie auf Strukturelementen in den Flügel basiert, die autonom funktionieren – ohne dass zusätzliche Energie aufgewendet werden muss. „Solche Erkenntnisse aus der Biologie könnten uns dabei helfen, technische Systeme zu konstruieren, die sich selbstständig an extreme oder unvorhergesehene Situationen anpassen – zum Beispiel in Umgebungen, in denen der Mensch nicht aktiv eingreifen kann, wie etwa bei Weltraummissionen“, sagt Co-Autor Hamed Rajabi abschließend.
Quelle: Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Fachartikel: Adv. Sci., doi: 10.1002/advs.202004338