Jeder Autofahrer kennt das Phänomen: Irgendwann ist das Profil der Reifen abgefahren und ein neuer Satz muss her. Doch was passiert eigentlich mit dem abgefahrenen Material? Es sammelt sich in Form von Mikrogummi in der Umwelt an. Wissenschaftler haben nun berechnet, dass sich in den vergangenen 30 Jahren allein in der Schweiz 200.000 Tonnen dieser Partikel in Böden und Gewässern angereichert haben. Zumindest mengenmäßig stellen die Gummiteilchen damit eine größere Belastung dar als klassisches Mikroplastik. Dieses Problem sei in der öffentlichen Diskussion bisher vernachlässigt worden, so das Forscherteam.
Mikroplastik ist in den vergangenen Jahren zunehmend in den Fokus der Öffentlichkeit geraten. Die winzigen Kunststoffteilchen schwimmen in Gewässern, reichern sich im Boden an und schwirren durch die Luft – sogar in unserem Körper finden sich die Partikel in nicht unerheblichen Mengen, wie Studien zeigen. Doch neben dem klassischen Mikroplastik belastet noch eine andere Polymerform die Umwelt: Die Rede ist von Mikrogummi – feinsten Partikeln aus Reifenabrieb. Ramona Sieber von der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt (Empa) in St. Gallen und ihre Kollegen haben nun erstmals genauer untersucht, was mit diesen winzigen Gummipartikeln passiert. Kurzum: Wohin verschwinden die verlorenen Zentimeter des Reifenprofils?
200.000 Tonnen in 30 Jahren
Um dies herauszufinden, werteten die Wissenschaftler unter anderem Daten zum Import und Export von Reifen in der Schweiz aus. Diese und weitere Informationen kombinierten sie dann mit einem Modell, das das Verhalten von Gummi auf der Straße und in Straßenabwasser simuliert. Zusätzlich analysierten sie den Abtrag von gummihaltigen Flächen wie Kunstrasen. Die Berechnungen ergaben eine beeindruckende Zahl: Im Verlauf der letzten 30 Jahre haben sich in der Schweiz rund 200.000 Tonnen Mikrogummi in der Umwelt angesammelt. Hauptverantwortlich für diese Belastung sind demnach wie erwartet Auto- und Lkw-Reifen. Gerade einmal drei Prozent des Mikrogummis geht hingegen auf Gummigranulat aus künstlichen Grünflächen wie Kunstrasen zurück, wie die Forscher berichten.
Doch wo landet das Mikrogummi konkret? Den Ergebnissen zufolge verbleiben knapp drei Viertel der in die Umwelt gelangten Teilchen im Boden der ersten fünf Meter links und rechts der Straße und vier Prozent in den restlichen Böden. 22 Prozent des Mikrogummis gelangt in Oberflächengewässer. Nur ein kleinerer Teil der Partikel schwirrt längere Zeit in der Luft herum, weil er immer wieder aufgewirbelt wird. Die Auswirkungen dieser Luftfremdstoffe auf den Menschen schätzt der nicht an der Untersuchung beteiligte Empa-Forscher Christoph Hüglin allerdings als eher gering ein. So belege eine Studie aus dem Jahr 2009: “Der Anteil von Reifenabrieb am eingeatmeten Feinstaub liegt auch an verkehrsnahen Standorten im tiefen einstelligen Prozentbereich”, berichtet Hüglin.
“Riesige Menge und höchst relevant”
Nach Ansicht der Wissenschaftler wurde die Rolle von Gummipartikeln in der Mikroplastik-Diskussion bisher vernachlässigt – ein fataler Fehler. Denn die Berechnungen zeigen auch, dass das Mikrogummi im Vergleich zum klassischen Mikroplastik mengenmäßig ein weitaus größeres Problem ist. So gehen Sieber und ihr Team davon aus, dass nur sieben Prozent der in die Umwelt freigesetzten polymerbasierten Mikropartikel aus Plastik bestehen. 93 Prozent gehen dagegen auf das Konto von Reifenabrieb. “Die Menge von Mikrogummi in der Umwelt ist riesig und somit höchst relevant”, betont Siebers Kollege Bernd Nowack.
Quelle: Eidgenössische Materialprüfungs- und Forschungsanstalt (Empa); Fachartikel: Environmental Pollution, doi: 10.1016/j.envpol.2019.113573