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Gestern und Morgen sind eins

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Gestern und Morgen sind eins
Die moderne Physik schockiert mit einer radikalen Neuinterpretation der Realität: Die Zeit ist eine bloße Illusion.

„Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding”, schrieb Hugo von Hofmannsthal im Libretto für Richard Strauss’ 1911 uraufgeführte Oper „Der Rosenkavalier”. „Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts. Aber dann auf einmal, da spürt man nichts als sie. Sie ist um uns herum, sie ist auch in uns drinnen. In den Gesichtern rieselt sie, im Spiegel da rieselt sie, in meinen Schläfen fließt sie. Und zwischen mir und dir da fließt sie wieder, lautlos, wie eine Sanduhr.” Dieser Fluss der Zeit ist uns sehr vertraut und zugleich äußerst rätselhaft – aber trotzdem wohl eine blanke Illusion. Denn immer mehr Physiker und Philosophen kommen zu dem Schluss, dass es die Zeit objektiv überhaupt nicht gibt. „Das zu erkennen, ist vielleicht die größte intellektuelle Herausforderung, mit der die Menschheit jemals konfrontiert wurde” , sagt der Philosoph und Physiker Vesselin Petkov von der Concordia University im kanadischen Montreal.

Diese radikale Revolution unseres Weltbilds und Selbstverständnisses ist eine Konsequenz von Albert Einsteins Relativitätstheorie – oder genauer: ihrer philosophischen Deutung. Doch bis sich diese Einsicht durchzusetzen begann – und gegen sie gibt es noch heute viel Widerstand –, hat es erstaunlich lange gedauert. „Zwar regte die Relativitätstheorie mehr philosophische Kommentare an und übte mehr Einfluss auf die Mainstream-Philosophie aus als jede andere wissenschaftliche Theorie – mit Ausnahme vielleicht der Gravitationstheorie von Isaac Newton. Aber es ist eine bemerkenswerte Tatsache, dass ihre Wirkung auf die Metaphysik eher marginal blieb”, sagt Simon Saunders, der an der University of Oxford Philosophie lehrt.

Wie schnell Fliesst die Zeit?

Schon die metaphorische Sprechweise macht Probleme: „Fließt” die Zeit aus der Zukunft durch die Gegenwart in die Vergangenheit, oder schiebt sich die Schnittstelle der Gegenwart gleichsam voran? Warum hat die Zeit überhaupt eine Richtung? Ist es sinnvoll, vom Vergehen der Zeit zu sprechen? Wie schnell vergeht sie denn – eine Sekunde pro Sekunde etwa? (Freilich darf man dann auch nicht fragen, wie lang ein Meter ist.) Und was ist dieses mysteriöse „Jetzt”, der messerscharfe Schnitt der Gegenwart, der die für unveränderlich erachtete Vergangenheit von der als offen und nebulös erlebten Zukunft trennt? Vielen Philosophen zufolge gibt es streng genommen sogar nur die Gegenwart. Sie haben diese Weltanschauung Präsentismus genannt (von lateinisch „praesens”: anwesend, gegenwärtig). Vergangenheit und Zukunft sind demnach nicht real, sondern existieren bloß als Erinnerung und Vorstellung und geben gleichsam eine Richtung an. So war schon der griechische Philosoph Heraklit der Auffassung, dass alles fließt („panta rhei”) und sich alles bewegt („panta chorei”).

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Und Aristoteles zufolge ist alles nur in der Gegenwart wirklich, die die „Vergangenheit und Zukunft verbindet”, die beide nicht existieren: „Ein Teil der Zeit war und ist nicht, während der andere sein wird und noch nicht ist.” Doch diese Auffassung hat die paradoxe Konsequenz, dass Aussagen über Aristoteles, der vor gut 2300 Jahren lebte und die Zeit als „Zahl der Bewegung nach dem Früher oder Später” definierte, eigentlich sinnlos sind. Genauso wie Aussagen über eine Station auf dem Mars, die in den nächsten 40 Jahren erbaut werden soll. Denn die Sätze über Aristoteles oder die Marsstation verlieren ihren „ Referenten” und die Eigenschaft, wahr oder falsch zu sein. Wie für Petkov und andere hat auch für Saunders die Relativitätstheorie den Präsentismus erledigt: „Physikalische Theorien waren einst mit ihm vereinbar, aber sie sind es nicht mehr.” Der Wissenschaftstheoretiker Yuri Balashov von der University of Georgia formuliert es noch schärfer: „Jeder, der die Relativitätstheorie ernst nimmt, kann den Präsentismus nicht ernst nehmen.”

Der Grund: Im Gegensatz zur Annahme der Physik vor Einstein gibt es in der Relativitätstheorie keine universelle Gleichzeitigkeit. Zuvor konnte man sich gleichsam an jedem beliebigen Punkt im Universum Uhren vorstellen, die exakt synchronisiert laufen. Doch so „tickt” die Natur nicht, wie Einstein entdeckt hat. Vielmehr hängt die Zeit vom Bezugssystem ab. Je schneller sich eine Uhr bewegt oder je stärker das Gravitationsfeld ist, in dem sie sich befindet, desto langsamer geht sie. Bei Lichtgeschwindigkeit oder am Rand eines Schwarzen Lochs vergeht quasi überhaupt keine Zeit. Die für den Alltagsverstand extrem ungewohnte Aussage, dass die Zeit vom Bezugssystem abhängt, ist nicht nur eine Konsequenz der Mathematik, sondern sie wurde auch durch Messungen bestätigt – beispielsweise durch den Vergleich von ultrapräzisen Atomuhren auf der Erde und in Satelliten. Tatsächlich wäre das GPS-Navigationssystem schon nach wenigen Minuten unbrauchbar, wenn dabei nicht die Relativitätstheorie berücksichtigt würde. Sie hat also im Gegensatz zu Einsteins eigener Ansicht inzwischen sogar eine Bedeutung im Alltag erlangt. Eine Konsequenz der Relativitätstheorie hat der Physiker Roger Penrose von der University of Oxford mit folgendem paradoxen Gedankenexperiment veranschaulicht: Zwei Menschen, die sich auf der Straße begegnen, können – wenn sich ihre Geschwindigkeiten extrem unterscheiden – völlig verschiedene „Gegenwarten” besitzen. Der eine, der sich in Richtung Andromedanebel bewegt, lebt zum Beispiel in einer Zeit, in der dort über eine Invasion beraten wird. Und der andere, obwohl er gerade am selben Ort ist, lebt dagegen in einer Zeit, in der sich die feindlichen Raumschiffe bereits auf den Weg gemacht haben.

In diesem Gedankenexperiment ist die Gegenwart für die beiden Beobachter so verschieden, dass sie sich quasi in unterschiedlichen Welten aufhalten. Doch eine solche „ Relativierung der Existenz”, wie Physiker dies nennen, erscheint grotesk. „Der Begriff der Existenz kann nicht relativiert werden, ohne dass seine Bedeutung vollständig zerstört würde”, widersprach schon Einsteins Kollege in Princeton, der berühmte Mathematiker Kurt Gödel. Da er sogar Lösungen der Allgemeinen Relativitätstheorie fand, die rotierende Universen als Zeitmaschinen beschreiben, in denen man auf geeigneten Bahnen in seine eigene Vergangenheit reisen kann, kam er zu einem anderen Schluss: Die Zeit muss eine Illusion sein (bild der wissenschaft 1/2006, „Ein ganzes Universum als Zeitmaschine”). „Die relativierte Existenz widerspricht auch Experimenten, die das Zwillingsparadoxon bestätigen”, schlägt Vesselin Petkov in dieselbe Kerbe.

Das Zwillingsparadoxon ist eigentlich gar keines, sondern eine weitere bizarre Konsequenz der Relativitätstheorie. Es beruht ebenfalls auf der „Zeitdilatation”: Je schneller sich ein System relativ zu einem anderen bewegt, desto stärker wird die Zeit dieses dahinrasenden Systems gedehnt – das heißt, desto langsamer vergeht sie. Würde ein Raumfahrer fast lichtschnell durchs All reisen, wäre sein auf der Erde zurückgebliebener Zwillingsbruder beim Wiedersehen viel mehr gealtert als der Raumfahrer oder, je nach Geschwindigkeit und Reisedauer, sogar schon lange tot.

Dass die Zeitdilatation in der Natur wirklich vorkommt, beweist die Geschwindigkeitsabhängigkeit vom Zerfall kurzlebiger instabiler Teilchen, beispielsweise der Myonen. Das sind schwere Geschwister der Elektronen. Ruhende Myonen haben eine Halbwertszeit von 1,5 Millionstel Sekunden. Als Physiker 1976 in einem Experiment Myonen auf 99,94 Prozent der Lichtgeschwindigkeit beschleunigten, stellten sie fest, dass diese rund 29-mal länger existierten. Tatsächlich besagt die Spezielle Relativitätstheorie, dass die „Eigenzeit” der Myonen um den Faktor 29 gedehnt ist. Auch der Nachweis von Myonen in Meereshöhe beweist die Zeitdilatation. Denn sonst müssten diese Teilchen, die in den oberen Atmosphärenschichten durch den Aufprall der Kosmischen Strahlung erzeugt werden, fast alle zerfallen, bevor sie die Erdoberfläche erreichen. Hier spielt übrigens noch ein weiterer relativistischer Effekt eine Rolle – die schon von dem niederländischen Physiker Hendrik Antoon Lorentz entdeckte, aber erst von Einstein erklärte Längenkontraktion: Nahe der Lichtgeschwindigkeit verkürzen sich Abstände und Objekte in Bewegungsrichtung (siehe Grafik links „ Die Relativität von Raum und Zeit”). Für die Myonen ist der Weg zum Erdboden also quasi gestaucht. Zeitdilatation und Längenkontraktion widersprechen unserem Alltagsverstand, der von einer absoluten Gegenwart und Gleichzeitigkeit ausgeht, weil er im Lauf seiner Evolution nur an langsame Geschwindigkeiten angepasst wurde. Doch die theoretischen und experimentellen Einwände lassen sich nicht aus der Welt schaffen. Petkov sagt: „ Der Präsentismus widerspricht der Speziellen Relativitätstheorie und ist deshalb falsch.” Die herkömmlichen dreidimensionalen Beschreibungen sind durchaus möglich, wie Petkov betont. Einstein selbst hatte diese Sprechweise verwendet. Doch in Wirklichkeit ist die Realität dahinter vierdimensional, wenn man die Relativitätstheorie ernst nimmt. „Wenn die Welt dreidimensional wäre, dann wären die Konsequenzen der Speziellen Relativitätstheorie und die Experimente, die sie bestätigen, unmöglich”, fasst Petkov zusammen. „Physikalische Objekte sind in der Zeit ausgedehnt, was bedeutet, dass sie vierdimensional sind.”

Die Zeit wird zum schatten

Die Zeit als vierte Dimension – was sich hier so leicht liest, ist eine radikal neue Sicht der Welt. Denn in gewisser Weise wird die Zeit dadurch verräumlicht, auch wenn sie sich in den Gleichungen von den drei Raumdimensionen durch ein umgekehrtes Vorzeichen unterscheidet, also ein Minuszeichen, wenn die Raumkoordinaten positiv gesetzt werden. Mehr noch: Raum und Zeit sind in der Relativitätstheorie zu einer untrennbaren Einheit verschweißt: der Raumzeit. Diese Konsequenz erkannte als erster Hermann Minkowski, bei dem Einstein am Züricher Polytechnikum Mathematikvorlesungen gehört – aber meistens geschwänzt – hatte. Am 21. September 1908 sprach der spröde wirkende Mathematiker in einem Vortrag vor der Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Köln über die drei Jahre zuvor von Einstein formulierte Spezielle Relativitätstheorie. In seinem Vortrag sagte er die folgenden, pathetischen und oft zitierten Worte, die in ihrer Tragweite aber lange nicht ganz verstanden wurden: „Die Tendenz ist eine radikale. Von Stund’ an sollen Raum für sich und Zeit für sich völlig zu Schatten herabsinken, und nur noch eine Art Union der beiden soll Selbstständigkeit bewahren.”

Zwar hatten weder Lorentz noch Einstein das Raum-Konzept attackiert. Aber aus der Perspektive der Speziellen Relativitätstheorie gibt es keinen absoluten Raum, sondern gewissermaßen unendlich viele Räume – ähnlich wie eine unendliche Zahl zweidimensionaler Ebenen in einem dreidimensionalen Volumen gedacht werden kann. Die Vereinigung von Raum und Zeit, das ist die erstaunliche Lehre der Relativitätstheorie, ergibt einen vierdimensionalen Raumzeit-Block. Mit Minkowskis Worten: „Die dreidimensionale Geometrie wird zu einem Kapitel in der vierdimensionalen Physik.” Diese Minkowski-Raumzeit lässt sich entweder als ein vierdimensionaler mathematischer Raum interpretieren, der die Zeitentwicklung der dreidimensionalen Welt repräsentiert, oder als mathematisches Modell einer vierdimensionalen Welt, in der die Zeit die vierte Dimension ist. Diese zweite Deutung ist für Petkov, Saunders und andere die angemessene, denn nur sie vermeidet das Paradoxon, dass die Existenz relativ ist. Dieses Block-Universum der Raumzeit (siehe Kasten „Von der vierten Dimension zum Block-Universum”) ist quasi zeitlos oder ewig. Entsprechend wird der Präsentismus durch eine andere philosophische Sicht der Welt ersetzt: den Eternalismus (von lateinisch „aeternus”: ewig). Im Eternalismus sind alle Zeitpunkte und ihre Bezugssysteme gleich wirklich. Die Zeit ist eine reale vierte Dimension analog zu den drei Raumdimensionen.

Die Zukunft steht schon fest

Zukunft und Vergangenheit sind ebenfalls wirklich. Und Objekte existieren nicht nur in der Gegenwart, sondern auch in der Vergangenheit und Zukunft – Aristoteles und die Marsstation sind gleichsam in der Raumzeit des Block-Universums fixiert: als sogenannte Weltlinie. Die Objekte sind räumlich wie zeitlich – genauer „raumzeitlich” – ausgedehnt. Das erscheint schwer vorstellbar, ist aber analog zu einem Fahrrad, das in einer Türöffnung abgestellt wurde. Auch dieses Fahrrad besteht ja aus zusammenhängenden räumlichen Teilen, die sich außerhalb und innerhalb der Türe befinden: das Hinterrad beispielsweise noch draußen, das Vorderrad schon im Hausflur. Zudem besteht das Fahrrad aus zeitlichen „Teilen”, etwa einem Stadium mit einer Reifenpanne und der in einer „Richtung” der Weltlinie zunehmenden Zahl an Rostflecken. Diese Teile sollten freilich nicht als Abfolge von Stadien interpretiert werden.

Die Alltagssprache tut sich sehr schwer mit einer solchenWeltdeutung. Aber das ist der Punkt: „Veränderung, Vergehen, zeitliches Werden haben ihre gewöhnliche Bedeutung nur in der dreidimensionalen Welt”, sagt Petkov. Einstein, der Minkowskis Raumzeit zunächst als „überflüssige Gelehrsamkeit” bezeichnet hatte, musste wenig später die Bedeutung der Erkenntnis seines ehemaligen Lehrers einsehen. 1916 gestand er ein: „Ohne Minkowskis wichtige Gedanken wäre die Allgemeine Relativitätstheorie vielleicht in den Windeln stecken geblieben.” Später hatte sich Einstein den – damals noch nicht so genannten – Eternalismus ebenfalls zu eigen gemacht. 1952 betonte er im 5. Anhang zur 15. Auflage seines Buchs „Relativity: The Special and General Theory”, dass es natürlicher erscheint, die physikalische Realität als eine vierdimensionale Existenz zu denken statt wie bisher als Entwicklung einer dreidimensionalen Existenz. Und 1955 schrieb er – kurz bevor er starb – in einem Kondolenzbrief anlässlich des Todes eines Freundes: „Für uns gläubige Physiker hat die Scheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur die Bedeutung einer wenn auch hartnäckigen Illusion.” Wenn die Zeit also gar nicht existiert, sondern bloß eine Illusion ist, dann gibt es in Wirklichkeit gar keinen Ablauf von Ereignissen. Das ist nur unsere subjektive irrige Empfindung – obwohl man das schwer glauben kann, wenn man doch häufig viel zu wenig Zeit hat oder ängstlich auf seinen Alterungsprozess starrt. Der Mathematiker Hermann Weyl hat dies in seinem Buch „ Philosophie der Mathematik und Naturwissenschaft” schon 1927 folgendermaßen beschrieben: „Der Schauplatz der Wirklichkeit ist nicht ein stehender dreidimensionaler Raum, in dem die Dinge in zeitlicher Entwicklung begriffen sind, sondern die vierdimensionale Welt, in welcher Raum und Zeit unlöslich miteinander verwachsen sind. Diese objektive Welt geschieht nicht, sondern sie ist – schlechthin; ein vierdimensionales Kontinuum, aber weder Raum noch Zeit. Nur vor dem Blick des in den Weltlinien der Leiber emporkriechenden Bewusstseins ,lebt‘ ein Ausschnitt dieser Welt ,auf‘ und zieht an ihm vorüber als räumliches, in zeitlicher Wandlung begriffenes Bild.”

Wenn es nicht so paradox klänge, könnte man sagen, dass Weyl mit dieser Beschreibung seiner Zeit weit voraus war. Seine Worte machen auch deutlich, welches Problem der Eternalismus aufwirft: Wie kommt es in einem ewig-statischen Block-Universum zur Zeitempfindung? Weyl definierte unser Bewusstsein implizit als etwas, das sich entlang der Weltlinien des Körpers bewegt – der „ Zeitfluss” wäre also abhängig vom Bewusstsein. Das ist entweder eine widersprüchliche Behauptung oder bedeutet, dass das Bewusstsein vielleicht überhaupt keine physikalische Wirklichkeit besitzt.

der heilige gral der physik

Tatsächlich haben Philosophen wie René Descartes immer wieder behauptet, dass das Bewusstsein in der Zeit, aber nicht im Raum ist. Ein solcher Leib-Seele oder Geist-Gehirn-Dualismus ist freilich für viele Philosophen nicht akzeptabel – und folgt aus dem Eternalismus auch nicht. Doch die unbehagliche Frage bleibt, weshalb wir eine „Gegenwart” und einen „Zeitfluss” erleben – und nicht alles auf einmal –, und warum sich unser Bewusstsein nicht simultan auf die Weltlinie unseres raumzeitlichen Körpers erstreckt. „Können wir sicher sein, dass einige der Leute, die wir treffen, nicht bloß bewusstlose Körper sind?”, fragt Petkov halb im Scherz und halb erschrocken.

Für manche Forscher sind solche Fragen freilich ein Indiz, dass mit dem Eternalismus fundamental etwas nicht stimmen kann. Sie mutmaßen, dass der Spuk vorübergeht, sobald sich die Relativitätstheorie mit der Quantentheorie zu einer „Weltformel” verbinden lässt. Eine solche Theorie der Quantengravitation ist eine Art „Heiliger Gral” der gegenwärtigen Physik. Doch die Erfolgsaussichten, mit Hilfe einer Theorie der Quantengravitation zur guten alten Zeit zurückzukehren, sind ziemlich gering.

· Ein Grund ist die Quantenkosmologie, die unter anderem den Urknall erklären soll. Darin spielt die Wheeler-DeWitt-Gleichung eine entscheidende Rolle (bild der wissenschaft 4/2004, „ Quantenkosmologie für Neugierige”). Noch kennt niemand die exakte Lösung dieser „Formel für Alles”. Doch die Forscher wissen bereits, dass die Zeit darin – im Gegensatz zum Raum – gar nicht mehr auftaucht und also auch keine fundamentale Größe sein kann. Allenfalls Zeit-Ersatzformen lassen sich definieren, etwa über den Expansionsparameter, der die Ausdehnung des Weltraums beschreibt.

· Ein anderer Grund ist, dass die Entwicklung der Quantengravitationsforschung darauf hinausläuft, die „Bausteine” der Wirklichkeit zu identifizieren – und auch zu ihnen gehört die Zeit nicht. Nach der Theorie der Schleifen-Quantengravitation sind diese Bausteine die Spin-Netzwerke – ein Gewebe aus eindimensionalen Strukturen. Aus ihm entsteht die Raumzeit erst. Deshalb ist sie kein Fundament der Natur, sondern ein nachgeordnetes Produkt – letztlich also tatsächlich illusorisch. Abhay Ashtekar von der Pennsylvania State University, der diese Theorie maßgeblich entwickelt hat, zitiert in diesem Zusammenhang gerne den Schriftsteller Vladimir Nabokow: „Der Raum ist ein Schwärmen in den Augen, die Zeit ein Singen in den Ohren.”

Ashtekars Kollege Carlo Rovelli, Physik-Professor an der Universität Marseille, hält die Zeit ebenfalls für ein Truggebilde: „Auch wenn ich es nicht beweisen kann, bin ich überzeugt, dass Zeit nicht existiert. Ich glaube, dass es eine Möglichkeit gibt, das Funktionieren der Natur zu beschreiben, ohne die Begriffe Zeit und Raum zu benutzen. ,Raum‘ und ,Zeit‘ werden nur innerhalb gewisser Näherungen sinnvoll bleiben – so wie der Begriff ,Wasseroberfläche‘ seine Bedeutung verliert, wenn wir auf die Atome des Wassers im Detail schauen: Sieht man genau genug hin, gibt es so etwas wie eine Wasseroberfläche gar nicht.” Ganz ähnlich verhält es sich mit Zeit und Raum: „Es sind nur makroskopische Näherungen – Illusionen, die unser Bewusstsein geschaffen hat, um die Realität zu verstehen.” ■

Rüdiger Vaas

Ohne Titel

„Was ist also Zeit? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich es einem Fragenden erklären, weiß ich es nicht”, hat der Kirchenvater Augustinus vor über 1500 Jahren geschrieben. Seither hat die Zeit kaum etwas von ihrem Rätsel verloren. Nicht einmal über den Status von Raum und Zeit herrscht Einigkeit: Sind Raum und Zeit

· eigenständige Gegenstände beziehungsweise Dinge?

· Eigenschaften von Gegenständen?

· Relationen zwischen Gegenständen?

· Sachverhalte?

· Angeborene Anschauungs- oder Denkformen des menschlichen Geistes und Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung überhaupt, nicht aber etwas Objektives außerhalb der subjektiven Wirklichkeit?

· Konstrukte unseres Gehirns, Bewusstseins oder der Grammatik unserer Sprache?

In der Physik ist die Zeit (t) spätestens seit Galileo Galilei eine Variable in Gleichungen wie h = 1/2 . g . t2 und v = g . t. Dabei bezeich-net h die Höhe, g die Fall- oder Schwerebeschleunigung und v die Fallgeschwindigkeit. Damit wird die Zeit operationalisiert – was später Albert Einstein mit seinem Bonmot ausdrückte, Zeit sei das, was die Uhr anzeigt. Das verschleiert freilich eine tiefe Kontroverse in der Physik und Philosophie:

· Dem Reduktionismus oder Relationismus der Zeit zufolge, wie ihn etwa Aristoteles, Gottfried Wilhelm Leibniz und Ernst Mach verfochten, existiert Zeit nur, weil und wenn es Veränderungen und somit Beziehungen zwischen Dingen gibt.

· Laut dem Platonismus oder Absolutismus der Zeit, favorisiert beispielsweise von Platon und Isaac Newton, kann Zeit auch ohne Veränderung vergehen. Es wäre also möglich, dass das ganze Universum erstarrt und trotzdem eine „leere” Zeit verstreicht – vielleicht Milliarden Jahre zwischen dem Lesen dieses Satzes und des nächsten.

Ohne Titel

· Die Relativitätstheorie und die Arbeiten an einer „ Weltformel” haben die Zeit quasi ausgelöscht.

· Stattdessen existiert eine vierdimensionale Raumzeit – ein „ Block-Universum”, in dem alles auf einmal fixiert ist.

Ohne Titel

Die Zeit als vierte Dimension hat schon 1895 der britische Schriftsteller Herbert George Wells beschrieben – in seinem Roman „Die Zeitmaschine”. Und noch früher, 1884, spekulierte der britische Mathe- matiker Charles Howard Hinton über eine vierdimensionale Raumzeit, in der gewöhnliche Partikel gleichsam als Fäden vorkommen – eine fast prophetische Vorwegnahme der „ Weltlinie”, die in der Relativitätstheorie eine zentrale Rolle spielt.

Die vierdimensionale Realität wird oft als „Block-Universum” bezeichnet, denn sie entwickelt sich nicht, sondern ist gleichsam als Ganzes und auf einmal da. Wenn es Gott gäbe und er außerhalb der Zeit existierte, wie schon der Kirchenvater Augustinus glaubte, könnte er gewissermaßen die Welt in ihrer Totalität von Anfang bis Ende überblicken. Der Begriff des unveränderlichen Block-Universums geht auf den amerikanischen Psychologen und Philosophen William James zurück. In seinem Essay „The Dilemma of Determinism” von 1884 kritisierte er die Vorstellung des Determinismus, die der Idee eines freien Willens widerspräche. Denn der Determinismus behauptet, „dass die Bereiche des Universums, die bereits feststehen, absolut darüber verfügen, was aus den anderen Bereichen werden soll. In der Gebärmutter der Zukunft liegen nicht verschiedene Möglichkeiten verborgen. […] Das Ganze steckt in jedem einzelnen Teil und ist zu einer absoluten Einheit verschweißt, zu einem Eisenblock, in dem keine Zweideutigkeit oder ein Schatten einer Veränderung sein kann.”

Eine eindrucksvolle literarische Umsetzung des quasi-räumlichen Alles-auf-einmal-Erlebens ist 1970 dem amerikanischen Science-Fiction-Autor Norman Spinrad in seiner Geschichte „The Weed of Time” gelungen. Darin hebt ein außerirdisches Kraut die Illusion der Zeitlichkeit auf: Wenn man es isst, hat man sein ganzes Leben von der Geburt bis zum Tod vor Augen – und kann doch nichts daran ändern. Einen ähnlichen Plot hat Ted Chiangs „Story of Your Life” von 1999. Darin beschreibt er, wie eine neue Sicht von Sprache und Denken das Zeiterleben so verändert, dass man sein ganzes Leben quasi simultan vor sich sieht.

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nur die vergangenheit ist determiniert, die Zukunft ist dagegen ein Spielraum der Möglichkeiten, von denen zu jedem Zeitpunkt nur eine realisiert wird. Diese These der sich entwickelnden Raumzeit ist eine Alternative zum statischen Raumzeit-Blockuniversum. Die Grafik veranschaulicht das mit der Zufallsbahn eines Teilchens: Sie zeigt die Weltlinie des Geschehens zu zwei Zeitpunkten. Doch es ist umstritten, ob eine solche „offene Zukunft” überhaupt existiert und auch ein absoluter Zufall, der sich nicht darauf reduzieren lässt, dass ein Beobachter die Zukunft nicht kennt.

Ohne Titel

Die Zeit war für Isaac Newton absolut – überall im Universum konnte man sich Uhren aufgestellt denken, die für beliebige Beobachter synchron laufen, der Zeitpunkt eines „Jetzt” sollte universell sein. Albert Einstein hingegen erkannte, dass die Zeit untrennbar mit dem Raum verbunden ist, bei hohen Geschwindigkeiten und die Raumzeit krümmenden Schwerefeldern gedehnt erscheint und für unterschiedliche Beobachter verschieden ist. Deshalb existiert keine objektive Gleichzeitigkeit (die „ Fläche der Gegenwart” bei Newton), sondern für jeden Beobachter eine unendliche Menge beliebiger „Hyperflächen”, die alle zusammen die Raumzeit des Block-Universums ergeben. In ihr sind die Weltlinien der Beobachter von Anfang bis Ende fixiert.

Ohne Titel

Das „Fliessen” der Zeit ist im Rahmen der Relativitätstheorie eine Illusion. Alles ist gewissermaßen „auf einmal” in der Raumzeit fixiert. Die Grafik veranschaulicht diese Täuschung an einem schwingenden Pendel. Der „Raumzeit-Block” wird mit der Zeitkoordinate t und zwei Raumkoordinaten x und y dargestellt, die dritte Dimension des Raums kann hier nicht gezeigt werden.

Ohne Titel

Treffen sich zwei Beobachter A und B mit stark unterschiedlicher Geschwindigkeit an einem Punkt P, dann stimmen ihre Messungen von Raum und Zeit nicht überein. Diese relativistischen Effekte – Zeitdilatation und Längenkontraktion genannt – widersprechen dem „gesunden” Menschenverstand. Sie sind aber experimentell nachgewiesen und ein Hinweis darauf, dass Raum und Zeit nicht getrennt, sondern als vierdimensionale Raumzeit vereinigt sind. In den Diagrammen oben sind die separaten Orts- und Zeitkoordinaten x und t für beide Beobachter dargestellt. Die beiden Digitaluhren (links) und der Meterstab (rechts) – jeweils als in der Raumzeit ausgedehnte „Weltlinie” eingezeichnet – befinden sich im Koordinatensystem von A in Ruhe, während B an ihnen vorbeirast. Für A zeigen die beiden Digitaluhren dieselbe Zeit an (hier: 5 Sekunden), für B jedoch nicht. Es existiert also keine universelle, objektive Gleichzeitigkeit. Auch erscheint dasselbe Objekt für A und B verschieden lang, denn B sieht den Meterstab verkürzt. Die Vergangenheit am Punkt P ist aber eindeutig: Sie ist in der Relativitätstheorie durch den Vergangenheitslichtkegel charakterisiert, der alles umfasst, was ein Ereignis bei P maximal mit Lichtgeschwindigkeit beeinflussen kann.

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