Den Geheimnissen der Walgesänge auf der Spur: Wenn Blauwale vermehrt am Tage singen, machen sie sich auf die Reise von ihren Nahrungsgründen zu ihren Winterquartieren, haben Forscher festgestellt. Möglicherweise stimmen sich die Tiere durch die Verschiebung der Gesangsaktivität sogar untereinander ab, um gemeinsam aufbrechen zu können. Eine gezielte Erfassung des Signals in Unterwasseraufnahmen könnte dem Schutz vor Kollisionen der Meeresgiganten mit Schiffen dienen, sagen die Wissenschaftler.
Mit einem Gewicht von bis zu 200 Tonnen übertrumpft er sogar die größten Dinosaurier – der Blauwal (Balaenoptera musculus) gilt als das schwerste Tier aller Zeiten. Doch nicht nur die gigantischen Ausmaße der Meeressäuger sind faszinierend. Schon lange erforschen Wissenschaftler die erstaunlichen Merkmale und Strategien, auf denen die Lebensweise der Rekordgiganten basiert. Im aktuellen Fall standen dabei das Migrationsverhalten sowie die Lautäußerungen der Blauwale im Fokus.
Wie andere Vertreter der Bartenwale sind sie Fernreisende der Meere: Im Sommer fressen sich die Blauwale in ihren Nahrungsgründen in kalten Meeresregionen tüchtig voll. Mit den siebartigen Barten in ihren gigantischen Mäulern filtern sie dort tonnenweise Krebschen aus dem Wasser und setzen Speck an. Den brauchen sie anschließend als Vorrat für ihre Reise und den Aufenthalt in den Winterquartieren der gemäßigten Breiten, wo sie sich paaren und ihren Nachwuchs zur Welt bringen. Das richtige Timing ist beim Migrationsverhalten wichtig, denn die Riesen haben weniger Pufferkapazitäten als man meinen könnte: Es ist für ihr Überleben wichtig, möglichst zu den günstigsten Zeiten am jeweiligen Ort aufzutauchen, um eine optimale Nahrungsaufnahme sowie Fortpflanzung zu gewährleisten.
Blauwalen zugehört
Dem Gesang der Tiere wurde bisher vor allem eine Rolle bei der Kommunikation untereinander zugesprochen, die im Zusammenhang mit der Fortpflanzung steht. Doch auch andere Funktionen der unter Wasser weithin hörbaren Rufe erscheinen denkbar. Um mögliche Zusammenhänge mit dem Migrationsverhalten aufzudecken, haben die Forscher um William Oestreich von der Stanford University Tieren einer Blauwalpopulation im Ostpazifik genau zugehört. Ihre Nahrungsgründe liegen vor der Westküste Nordamerikas. Nach dem sommerlichen Schmausen schwimmen sie zur Pazifikküste Mittelamerikas, um sich dort im Winter fortzupflanzen. Für die Untersuchung des damit verbundenen Sing-Verhaltens haben die Meeresbiologen Aufnahmen von Unterwassermikrofonen in der Monterey Bay über einen Zeitraum von fünf Jahren ausgewertet. Entscheidende Aufzeichnungen lieferten zudem Messgeräte, die sie an 15 Walen befestigt hatten.
“Wir haben festgestellt, dass die Wale bei ihrem Sommeraufenthalt vor allem nachts singen – doch wenn sich abzeichnet, dass sie sich auf die Reise machen, kehrt sich dieses Muster um: Sie geben überwiegend tagsüber Laute von sich“, berichtet Oestreich. Konkret zeigten die Aufnahmen eines Tieres beispielsweise: Während der Periode der Nahrungsaufnahme erhob der Wal nachts durchschnittlich dreizehnmal pro Stunde seine Stimme – am Tag hingegen nur dreimal. Als sich dann in den Daten der Messinstrumente abzeichnete, dass er das Fressen einstellte und sich in Richtung Süden bewegte, verschob sich die Gesangsaktivität: Nachts gab der Wal durchschnittlich nur noch fünfmal pro Stunde Töne von sich – am Tag hingegen zehnmal. Wie die Forscher erklären, konnten sie damit schon zuvor festgestellte Veränderungen des Gesangs nun erstmals deutlich mit dem Migrationsverhalten in Verbindung bringen. „Wir sehen in diesen Verschiebungen des zeitlichen Musters eine akustische Signatur des Aufbruchs”, sagt Oestreich.
Signal zum kollektiven Aufbruch?
Die Studie erweitert damit auch eine bisher möglicherweise einseitige Sichtweise: “Die Bedeutung von Walgesängen wird typischerweise im Kontext von Paarungs- und Fortpflanzungsverhalten betrachtet”, sagt Oestreich. “Wir bestreiten diese Rolle nicht, aber es ist interessant festzustellen, dass es möglicherweise auch weitere Funktionen des Gesangs gibt”, sagt der Wissenschaftler. Welche Bedeutungen das veränderte Gesangsverhalten genau hat, ist zwar noch unklar, doch Oestreich will nun einer interessanten Möglichkeit nachgehen. Er vermutet, dass es der Abstimmung der Tiere untereinander dienen könnte. Möglicherweise brechen die Wale die Nahrungssuche ab und machen sich auf den Weg, wenn sie hören, dass in der Population Aufbruchsstimmung herrscht. “Es scheint möglich, dass sich die weit verstreut lebenden Individuen über die Merkmale des Singverhaltens solche Informationen vermitteln“, so Oestreich.
Neben der Bedeutung für die Biologie könnten die akustischen Hinweise auf das Zugverhalten der Blauwale auch ihrem Schutz dienen, sagen die Wissenschaftler. Durch genauere Informationen über den Beginn der Wanderung könnten Schiffe in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt werden. Denn seit der Walfang eingestellt wurde, bildet die Kollision mit großen Schiffen die größte Gefahr für die noch immer bedrohten Meeressäuger. “Viele Leute interessieren sich für unsere Ergebnisse im angewandten Sinn – sie wollen sie für das Management von Meereslebensräumen nutzen und zur Minderung der Risiken von Kollisionen auf den Schifffahrtsrouten”, sagt Oestreich. Wunder können wir wohl nicht erwarten, aber man kann sich überlegen, wie die Ergebnisse zum Schutz der Wale beitragen könnten“, so der Forscher.
Quelle: Stanford University, Fachartikel: Current Biology, doi: 10.1016/j.cub.2020.08.105