Statistische Untersuchungen zeigen: Frauen sind durchschnittlich weniger krankheitsanfällig und leben länger als Männer ? ein Grundsatz, der in der Regel auf alle Säugetiere zutrifft. Schon früh haben Forscher die Ursache dafür beim genetischen Unterschied zwischen Weiblichkeit und Männlichkeit gesucht: dem X-Chromosom, das nur die Frauen in doppelter Ausführung besitzen. Beim männlichen XY-Paar fehlt es an der Sicherheitskopie, falls gesundheits-relevante Erbanlagen beeinträchtigt sind. Belgische Forscher fügen dieser Erklärung nun noch einen Aspekt hinzu: Ihre Untersuchungen weisen darauf hin, dass der gesundheitliche Unterschied zwischen den Geschlechtern auch von den Effekten der sogenannten mikro-RNAs beeinflusst wird. Diese regulatorischen Moleküle unterstehen zu einem überproportionalen Teil der Kontrolle des X-Chromosoms, sagen die Wissenschaftler um Claude Libert von der Universität Gent.
Männer haben zwar körperlich ein ?Stück? mehr, genetisch gesehen fehlt ihnen dagegen etwas: Frauen besitzen in ihrem Erbgut zwei X-Chromosomen, Männern fehlt beim zweiten X-Chromosom dagegen ein Beinchen ? sie haben nur ein XY-Paar. Das bedeutet: Während bei den beiden X-Chromosomen der Frau zur Sicherheit alle genetischen Informationen doppelt vorhanden sind, kann das Y-Chromosom nicht einspringen, wenn beim Mann Gene auf dem einzigen X-Chromosom gestört sind. Ein Beispiel dafür ist die sogenannte Bluterkrankheit. Ein Defekt auf dem X-Chromosom löst diese Gerinnungsstörung des Blutes aus. Betroffen sind davon aber nur Männer, denn bei Frauen, die diesen Gen-Defekt tragen, kompensiert die unversehrte Genkopie auf dem zweiten X-Chromosom die Fehlfunktion.
Die Untersuchungen von Claude Libert und seinen Kollegen lassen nun vermuten, dass ein ähnliches Prinzip auch für das System der mikro-RNAs vorliegt. Seit einigen Jahren ist bekannt, dass neben den klassischen Genen mikro-RNAs die Lebensprozesse fundamental prägen. Sie bestehen aus durchschnittlich 22 genetischen Bausteinen, dienen aber anders als ihre Verwandten, die RNAs, nicht zur Herstellung von Proteinen. Sie beeinflussen aber dennoch indirekt die Produktion dieser Eiweiße, sie spielen also eine zentrale Rolle in dem komplexen Geschehen der Genregulation in Zellen. Frühere Studien haben bereits gezeigt, dass viele Krankheiten mit einer fehlerhaften Bildung von mikro-RNAs einhergehen, beispielsweise sind sie an den Fehlfunktionen von Tumorzellen beteiligt.
Zehn Prozent der genetischen Information zur Produktion von mikro-RNAs befindet sich auf dem X-Chromosom, betonen nun Claude Libert und seine Kollegen. Das Geschlechts-Chromosom ist also ein überproportional wichtiger Informationsträger für diese regulatorischen Faktoren. Zur Untermauerung ihrer Theorie haben die Forscher eine Karte des X-Chromosoms von Mensch und Maus erstellt, die alle bekannten Ursprungsorte für mikro-RNAs markiert, die für das Immunsystem eine Rolle spielen. ?Wir glauben, dass der immunologische Vorteil der Frauen mit diesen mikro-RNAs auf dem X-Chromosom zusammenhängt?, resümiert Claude Libert. “Wie genau diese einzigartige Form der genetischen Beeinflussung funktioniert, wird eine spannende Forschungsfrage in den kommenden Jahren sein”, so der Molekularbiologe.
Iris Pinheiro (Universität Gent) et al.: BioEssays, DOI: 10.1002/bies.201100047 wissenschaft.de –
Martin Vieweg