Seit einiger Zeit wird dieses Szenario jedoch angezweifelt. Einer der Skeptiker ist Prof. Klaus Dose, emeritierter Biochemiker an der Universität Mainz. “Wir wissen heute, daß die Mengen von Methan und Ammoniak, die Stanley Miller bei seinem grundlegenden Experiment nahm, viel zu hoch waren. Wiederholt man seine Versuche mit den Konzentrationen, die Geologen jetzt für wahrscheinlich halten, so ist die Ausbeute an organischen Stoffen nur sehr gering.” War es also nichts mit der Ursuppe, den molekülschwangeren “warmen Tümpeln”, in denen schon Charles Darwin die Zeugung des Lebens vermutet hatte? Woher aber kommen die Lebensbausteine dann?
Alle Versuche zu erklären, wie sich die kohlenstoffhaltigen Kettenmoleküle bildeten, ohne die das Leben nicht denkbar ist, enthalten eine große Unbekannte: Bei welcher Temperatur spielte sich der Prozeß ab? “Auf den internationalen Kongressen geht dieser Streit von einem Extrem zum anderen”, berichtet Prof. Karl-Otto Stetter, Mikrobiologe an der Universität Regensburg.
Stanley Miller zum Beispiel nahm eher kühle bis mittlere Temperaturen an, andere Forscher meinen sogar, gerade die Grenze von Eisschichten könnte günstige Bedingungen zur Bildung großer organischer Moleküle geboten haben. “Das ist leider experimentell schwer nachzuweisen”, meint Dose. “Bei tiefen Temperaturen laufen alle chemischen Reaktionen nur sehr langsam.”
Ein ganz anderes Szenario, einen Ursprung in vulkanischer Hitze, entwarf in den achtziger Jahren der Münchner Chemiker Prof. Günter Wächtershäuser. Zugleich schlug er einen Weg vor, wie die ersten Bindungen zwischen Kohlenstoff- und Stickstoff-Atomen zustande gekommen sein könnten. Ohne Stickstoff gibt es keine Aminosäuren, und aus den Aminosäuren entstehen alle die komplizierten Eiweiße, die die Lebensvorgänge steuern. Heute sorgen Enzyme für diese Verbindung, die es damals noch nicht gab. Des Rätsels Lösung, so Wächtershäuser, sei Pyrit, auch “Narrengold” genannt, chemisch FeS2. Bei der Bildung von Pyrit aus Eisensulfid und Schwefelwasserstoff entsteht genau die Menge Energie, die eine C-N-Bindung möglich mache. Sogar kurze Molekülketten kann diese Reaktion wachsen lassen, wie Wächtershäuser in Experimenten nachwies.
Die Idee , daß sich die Verbindung organischer Moleküle zu langen Ketten nicht im freien Wasser, sondern an festen Oberflächen abspielte, hat auch für Vertreter anderer Reaktionstheorien ihren Reiz. Nicht die pyritbedeckten Oberflächen heißen Gesteins seien mögliche Katalysatoren gewesen, sondern Ton, meint seit den sechziger Jahren Prof. Graham Cairns, Geowissenschaftler an der Universität Glasgow. Er verweist vor allem auf ein Tonmineral mit dem Namen Montmorellionit. Es hat ganz erstaunliche Eigenschaften: An elektrisch geladene Partien seiner Oberfläche können sich Aminosäuren anlagern, die sich schon bei leichtem Erhitzen zu kurzen Eiweißketten, den Peptiden, verbinden.
Lange Ketten, da sind sich die Forscher einig, sind der Schlüssel des Lebens. Wenn “Leben” vor allem die Speicherung von Information bedeutet, wie der Jenaer Physiker und Philosoph Prof. Bernd-Olaf Küppers sagt, dann stellt sich die Frage nach seinem Medium. Die Frage, wie erste informationspeichernde Moleküle sich nicht nur gebildet, sondern auch vermehrt und verbessert haben könnten, gleicht dem klassischen Henne-Ei-Problem. Sowohl DNA als auch RNA hängen bei ihrer Bildung von Enzymen ab. Enzyme sind besondere Arten von Eiweißen, die erst nach der Information gebaut werden, die auf den Nukleinsäuren gespeichert ist. Keine Komponente hätte anfangs allein einen Mechanismus in Gang bringen können, wie er typisch ist für das uns bekannte Leben.
Prof. Christof Biebricher vom Max-Planck-Institut für Biophysikalische Chemie in Göttingen sagt: “Postulieren wir, daß es RNA gab, die in der Lage war, sich selbst zu vermehren, dann wäre ihre weitere Entwicklung vorstellbar. Zu Beginn haben wir die Selbstorganisation, von der wir aber noch nicht wissen, wie sie zustande kam. Danach aber wirkt ein bekanntes Prinzip, nämlich die Evolution im Sinne Darwins. Sobald informationstragende Moleküle angefangen haben, sich zu vermehren, setzt eine Art chemischer Evolution ein. Die Ketten, die sich am schnellsten vermehren, verdrängen die langsameren, indem sie ihnen die Bausteine wegnehmen.” In seinen Labors kann Biebricher eine solche Vermehrung und Evolution von RNA im Reagenzglas sogar demonstrieren. Und er kann auch zeigen, daß ineffiziente Moleküle sehr schnell besseren Versionen Platz machen müssen.
Was auch immer die ersten vermehrungsfähigen Moleküle der Welt waren – sie hinterließen keine Spuren. Die ältesten echten Fossilien von Mikroorganismen auf der Erde sind 3,5 Milliarden Jahre alt: winzige Bläschen im australischen Gesteinen, die einfachen Bakterien oder Blaualgen ähneln. An ihnen kann man das nächsthöhere Charakteristikum in der Entwicklung zu höherem Leben studieren: Die Ausgrenzung, die Bildung von Blasen, geschützten Räumen – eine Innenwelt im Gegensatz zur feindseligen Außenwelt. Sehr viele Reaktionen in Lebewesen – vom Energieumsatz bis zu der Produktion von Hormonen oder dem Austausch von Informationen – könnten nicht ablaufen, würden sie nicht in einem abgetrennten Raum stattfinden.
Noch immer ist unklar, wie denn die ersten Zellen aussahen. Wahrscheinlich ähnelten sie den heutigen Bakterien, hatten zwar eine Zellwand aber noch keinen abgetrennten Kern und keine Organellen, die für die heutigen Zellen typisch sind. Unter dem Druck zunehmender Nahrungsknappheit bahnte sich dann die nächste Entwicklung an, die der Erde ein völlig neues Gesicht gab. Es entstanden Moleküle, die fähig waren, Sonnenlicht einzufangen und die darin enthaltene Energie für biochemische Reaktionen zu nutzen – die Anfänge der Photosynthese. Als Abfallprodukt wurde dabei Sauerstoff frei, der sich allmählich in der Atmosphäre anreicherte. Erst dieser Sauerstoff ermöglichte die Entstehung der vielfältigen Tier- und Pflanzenwelt, die sich aus den Mikroorganismen entwickelte.
Bis heute weiß keiner, ob sich auf anderen Planeten im Universum unter ähnlichen Umständen das gleiche abspielte. Ob wir wirklich einzig sind oder nur eine Variante eines großen, vielfältigen Themas auf einem ganz normalen, von Leben wimmelnden Planeten. Einem von vielen.