Wie funktioniert der geheimnisvolle sechste Sinn der Zugvögel? Sie orientieren sich bei ihren Fernreisen durch Sensoren im Auge am Erdmagnetfeld, legen biophysikalische Untersuchungsergebnisse nahe. Es handelt sich dabei um spezielle Eiweiße in der Netzhaut, die auf Magnetfelder reagieren. Diese Eigenschaft des sogenannten Cryptochrom 4 ist nur bei ziehenden Vogelarten wie dem Rotkehlchen besonders ausgeprägt, geht aus den Ergebnissen hervor.
Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten sind der Standard – doch bei einigen Tieren zeichnet sich noch ein sechster Sinn ab: Manche Vögel, Fische, Schildkröten und auch Vertreter der Säugetiere zeigen bei ihren Fernreisen ein Orientierungsvermögen, das offenbar auf der Wahrnehmung von Magnetfeldern beruht. Dem Geheimnis dieser erstaunlichen Sinneswahrnehmung bei Zugvögeln ist seit einiger Zeit ein interdisziplinäres Forscherteam der Universitäten Oldenburg und Oxford auf der Spur. Verschiedene Hinweise legten bereits nahe, dass der biologische Kompass im Auge der Vögel sitzt. Als mögliche „Kompassnadeln“ rückten dabei bestimmte lichtempfindliche Eiweiße in der Netzhaut der Tiere ins Visier.
Ein potenzieller Magnetsensor im Blick
Die Bestätigung dieser Vermutung basiert nun auf der Entschlüsselung des genetischen Codes eines Kandidaten-Proteins aus der Netzhaut von Rotkehlchen. Dies ermöglichte es den Forschern, dieses sogenannte Cryptochrom 4 in Bakterienkulturen in großen Mengen herzustellen. So konnten sie anschließend untersuchen, inwieweit das Biomolekül eine Empfindlichkeit gegenüber Magnetfeldern aufweist. Dabei kamen verschiedene Methoden, darunter Magnetresonanzmessungen und neue spektroskopische Verfahren, zum Einsatz.
So konnten die Forscher zunächst bestätigen: Cryptochrom 4 besitzt tatsächlich physikalische Eigenschaften, die erforderlich sind, um als „biologische Kompassnadeln“ fungieren zu können. „Nun ist es keine Vermutung mehr, dass diese Biomoleküle magnetisch sensitiv sind, sondern wir können es sehen”, sagt Co-Autor Henrik Mouritsen von der Universität Oldenburg. Das Team konnte auch den Mechanismus aufzeigen, der den Reaktionen auf Magnetfelder zugrunde liegt. Das Protein zeigt demnach eine lichtgetriebene chemische Veränderung, die wiederum Quanteneffekte mit magnetischer Bedeutung vermittelt. „Eine entscheidende Rolle spielen dabei Elektronen, die sich innerhalb des Moleküls bewegen können, nachdem das System durch Licht aktiviert wurde”, erklärt Co-Autor Mouritsen.
Biophysikalische Kompassnadeln
Dafür sind die Anordnungen der Tryptophan-Bausteine des Eiweißes ausschlaggebend, zeigten weitere Untersuchungen. Die Elektronen hüpfen demnach von einem Tryptophan zum nächsten und erzeugen dabei sogenannte Radikalpaare, die magnetisch sensitiv sind. Wenn man den Proteinaufbau des Cryptochroms der Rotkehlchen nur leicht verändert, wird die Bewegung der Elektronen blockiert und damit geht die magnetische Sensitivität verloren, zeigten die Experimente. Einen weiteren Hinweis, dass die speziellen Versionen des Cryptochrom 4 tatsächlich die lange gesuchten Magnetsensoren beim Migrationsverhalten darstellen, ergaben Vergleiche mit den Pendants von Arten, die nicht zu den Zugvögeln gehören. So zeigten etwa die Untersuchungen des Cryptochrom 4 von Hühnern zwar eine Reaktion auf Licht, doch diese Proteinversionen erwiesen sich als vergleichsweise wenig empfindlich gegenüber Magnetfeldern.
Dennoch fehlt bisher der endgültige Nachweis, dass es sich bei Cryptochrom 4 um den gesuchten Magnetsensor handelt, räumen die Wissenschaftler ein. „Dazu müssten wir nachweisen, dass dieser Prozess auch in den Augen von Vögeln stattfindet”, betont Mouritsen. Außerdem waren die bei den Experimenten verwendeten Magnetfelder stärker als das Erdmagnetfeld. Die Autoren gehen aber davon aus, dass die Moleküle in ihrer natürlichen Umgebung noch deutlich empfindlicher reagieren als unter den Laborbedingungen. Denn in den Zellen der Netzhaut sind die Proteine wahrscheinlich fixiert und in die gleiche Richtung ausgerichtet, was ihre Sensitivität für die Richtung des Magnetfeldes vermutlich steigert.
Die Wissenschaftler vermuten, dass die Sinnesreize außerdem durch die Interaktion mit anderen Proteinen in den Netzhautzellen weiter verstärkt werden. Nach diesen bislang noch unbekannten Partnermolekülen sucht das Team derzeit – die Forscher wollen also am Ball bleiben: „Wenn uns die weiteren Nachweise gelingen, würden wir zeigen, dass dieser quantenphysikalische Mechanismus Tiere empfindlich für Umweltreize macht, die um sechs Größenordnungen unterhalb der Schwelle liegen, die bislang als wahrnehmbar galt”, sagt Mouritsen abschließend.
Quelle: University of Oldenburg, Fachartikel: Nature, doi: 10.1038/s41586-021-03618-9