Eiche, Buche, Tanne – oder aber einfach nur Baum: Die Häufigkeit und Ausdrucksvielfalt von Bezeichnungen für Tiere und Pflanzen in der westlichen Literatur stieg in den letzten 300 Jahren zunächst an, seit den 1830er Jahren nahm die literarische Artenvielfalt dann allerdings ab. Dies zeigt eine Analyse von insgesamt 16.000 Werken. Den Forschern zufolge spiegelt sich in diesen Ergebnissen der Einstellungswandel des Menschen zur Natur in dieser von der Industrialisierung geprägten Zeit wider. Ihr Ansatz könnte nun auch auf moderne Medien angewendet werden, um Trends zu erfassen.
Das sechste große Massensterben der Erdgeschichte ist in vollem Gange: Die Welt verliert durch die Folgen der menschlichen Aktivitäten Tier und Pflanzenarten in einem rasanten Tempo. Dieser Prozess beschleunigte sich vor allem in den letzten 300 Jahren. Aus diesem Grund hat sich ein internationales Forscherteam diesem Zeitfenster nun in spezieller Weise gewidmet. Die Wissenschaftler wollten Hinweise darauf gewinnen, inwieweit die Biodiversitätskrise der realen Welt mit der Gedankenwelt der Menschen verbunden war. Als Spiegel dieses Zusammenhangs wählten sie die Literatur: Sie untersuchten, wie sich der sprachliche Umgang mit Biodiversität in Büchern über die letzten 300 Jahre verändert hat. Für die Studie nutzten die Forscher den Literaturbestand des Projects Gutenberg. Mit knapp 60.000 Werken ist es die größte digitale, öffentliche Sammlung von westlicher Belletristik in englischer Sprache. Sie umfasst aber auch die Übersetzungen von Büchern aus anderen Originalsprachen.
Bewusstseinswandel im Spiegel von Literatur
Die Forscher konzentrierten sich bei dieser Studie auf die Literatur der Zeit von 1705 bis 1969. Sie entschieden sich für diesen Bereich, da er die Zeit vor und während der Industrialisierung erfasst, aber vor dem Aufkommen der breiten digitalen Massenmedien endet. Denn die Entwicklung in der jüngeren Geschichte bedarf aufgrund anderer Grundstrukturen einer separaten Untersuchung, erklären die Forscher. Insgesamt werteten sie 16.000 Werke von 4000 Autoren aus. Die Texte wurden dazu zunächst nach Begriffen für Lebewesen unterschiedlichster Art durchsucht. So entstand eine umfangreiche Liste von 240.000 Bezeichnungen – vom Maikäfer bis zum Lavendel. Mittels dieses speziellen Wortschatzes wurden dann sämtliche Texte nach Wortvorkommnissen, -häufigkeiten und -verteilungen untersucht. „Durch die Entwicklung neuer computergestützter Analysemethoden konnten wir die Literatur nach den darin enthaltenen biologischen Begriffen systematisch untersuchen und auswerten“, erklärt Erstautor Lars Langer von der Universität Leipzig.
Wie die Wissenschaftler berichten, zeichnete sich in den Auswertungsergebnissen eine charakteristische Entwicklungskurve ab: Die Häufigkeit und Ausdrucksvielfalt von Bezeichnungen für Tiere und Pflanzen in der Literatur stieg bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zunächst an, nahm dann aber kontinuierlich ab. Konkret ist besonders nach 1835 eine Tendenz zur Verwendung weniger spezifischer Bezeichnungen für Lebewesen feststellbar. Das bedeutet, dass immer häufiger Grundbegriffe benutzt wurden – wie etwa Baum statt einer konkreteren Bezeichnung wie Eiche. Dieser Abwärtstrend betraf dabei offenbar eher Lebewesen der Umgebung der Menschen und aus der Natur. Tiere und Pflanzen mit denen sie dauerhaft und häufig zu tun hatten – wie domestizierte Arten – wurden hingegen gleichbleibend oft genannt, zeigten die Analysen.
Was steckte hinter dieser Entwicklung?
Die Wissenschaftler interpretieren den anfänglichen Anstieg der biologischen Vielfalt in der Literatur als eine Folge kulturellen Entwicklungen im 18. Jahrhundert. Die Verbesserung von Forschung und Bildung im Zeitalter der Aufklärung könnte demnach zu dem Anstieg der literarischen Biodiversität beigetragen haben. Auch eine gewisse Faszination für die Entdeckung neuer Arten im Rahmen der Kolonialisierung könnte eine Rolle gespielt haben. In der Romantik entstand zudem ein erstes Bewusstsein für den beginnenden Verlust der Artenvielfalt, sagen die Forscher.
Doch diese Entwicklungen wurden dann wohl von der Industrialisierung, Urbanisierung und den damit verbundenen Landnutzungsänderungen verdrängt. Der vielschichtige Prozess löste ein reales Artensterben aus, das vermutlich auch mit einer Verarmung der naturbezogenen Denkmuster einherging. In dem literarischen Biodiversitätsverlust spiegelte sich demnach wohl eine zunehmende Entfremdung des Menschen von der Natur wider, meinen die Forscher. „Reale Biodiversitätskrisen scheinen mit einer Gedankenkrise eng verbunden zu sein“, sagt Seniorautor Christian Wirth vom Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung Halle-Jena-Leipzig. „Wir sehen, dass mit dem Beginn der Industrialisierung beide Krisen parallel verlaufen und gehen davon aus, dass sie sich wechselseitig bedingen und verstärken“.
Damit richtet Wirth seinen Blick auf unsere heutige Zeit und betont den Bedarf an weiteren Studien dieser Art: „Ich denke, dass wir einen Stopp des realen Biodiversitätsverlusts nur durch einen tiefgreifenden Bewusstseinswandel erreichen. Unser Forschungsansatz kann detektieren, ob politische Programme, Krisen oder Positivbeispiele Biodiversität in unseren Köpfen präsenter machen. Heute wären neben Büchern auch die sozialen Medien sehr aufschlussreich.“ „Die Methode hat auch das Potenzial auf andere Kulturen, Kulturgüter und Zeiträume übertragen zu werden. Eine zukünftige Untersuchung aktueller Medien würde auch aktuelle Analysen über das Mensch-Natur-Verhältnis ermöglichen“, sagt Langer abschließend.
Quelle: Deutsches Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig, Fachartikel: People and Nature, doi: 10.1002/pan3.10256