Weil sie exzessiv gejagt wurden, waren Luchse zwischenzeitlich in Mitteleuropa ausgerottet. Zwar gibt es mittlerweile wieder angesiedelte Populationen, die flächendeckende Verbreitung geht aber eher schleppend voran. Nach einer neuen Untersuchung hängen damit auch verstärkter Inzest und ein schrumpfender Genpool zusammen. Als Ursache hierfür sehen die Forscher unter anderem, dass die Lebensräume der Luchse durch menschliche Infrastruktur zerschnitten werden. Dadurch gibt es nur wenig Austausch zwischen den Populationen.
Über Jahrhunderte hinweg wurde der Luchs in Europa wegen seines Fells bejagt. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde er schließlich in Deutschland und angrenzenden Ländern vollständig vom Menschen ausgerottet. Heute gibt es sowohl hierzulande als auch in mehreren anderen Regionen Mitteleuropas wieder erfolgreich ausgesiedelte Luchspopulationen. „Das ist ein Riesenerfolg, der durch die gezielten Wiederansiedlungsprogramme in Europa ermöglicht wurde“, erklärt Sarah Mueller vom Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt. „Leider geht die Ausbreitung der Luchspopulationen vielerorts nur langsam vonstatten oder stagniert sogar.“ Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass Luchse auch heute noch mancherorts illegal gejagt werden. Auch der Straßenverkehr fordert jedes Jahr Opfer der größten europäischen Katzenart.
Genetische Vielfalt auf dem Prüfstand
Ein Team um Mueller hat nun nach weiteren möglichen Gründen für die Stagnation der Luchs-Ausbreitung gesucht. Hierfür untersuchten die Forscher die Muster der genetischen Vielfalt im Erbgut aller sechs erfolgreich wiederangesiedelten Populationen Mitteleuropas und verglichen diese mit Daten aus zwölf natürlichen Populationen in Ost- und Nordeuropa sowie Asien. Dadurch wollten sie mögliche genetische Ursachen für die langsame Erholung des Luchses in Europa aufdecken.
Das Ergebnis der Untersuchung bestätigte den ersten Verdacht der Wissenschaftler: „Fast alle wiederangesiedelten Luchspopulationen haben eine deutlich geringere genetische Vielfalt als die natürlichen Vorkommen. Zusätzlich ist in den wiedereingeführten Populationen Inzucht verbreitet“, fasst Mueller zusammen. „Am stärksten ausgeprägt ist die Inzucht in den Luchsbeständen mit der geringsten Anzahl von Gründerindividuen.“ Schon zu Beginn der Wiederbesiedlung herrscht demnach bereits in diesen Luchsgruppen ein unzureichend großer Genpool.
Infrastruktur stört den Austausch
Als weiteren Grund sehen die Wissenschaftler, dass Straßen und Siedlungen die Lebensräume der Raubkatzen zerschneiden. Luchse sind meist als Einzelgänger unterwegs, weshalb menschengemachte Infrastruktur den Kontakt zwischen Männchen und Weibchen während der Paarungszeit erschwert. Auch junge Luchse haben dadurch kaum die Möglichkeit, aus ihrem Geburtsrevier abzuwandern.
„Es gibt dennoch auch berechtigte Hoffnung: Ausgehend von der Wiederansiedlung im Harz breiten sich Luchse auch über die stark fragmentierte Kulturlandschaft aus“, sagt Mueller. „Es gibt demnach die Chance, dass wir es schaffen, eine gut vernetzte und individuenstarke Metapopulation – also eine Gruppe von Teilpopulationen, die untereinander einen eingeschränkten Genaustausch haben – aufzubauen, die ihre genetische Vielfalt nicht wieder langfristig einbüßt.“
Es braucht „Trittsteine“ zwischen den Revieren
Laut den Wissenschaftlern ist eine europäische Lösung für die erfolgreiche Wiederansiedlung des Luchses allerdings unabdingbar. „Luchse besetzen riesige Reviere, die mehr als 200 Quadratkilometer groß sein können. Dabei halten sich die Tiere nicht an nationale Grenzen“, erklärt Mueller. Deshalb benötigt es große zusammenhängende Lebensräume, die den Luchsen die Wanderschaft und damit den Genaustausch außerhalb ihres Reviers ermöglichen. Zudem wollen sich die Forscher für die Auswilderung weiterer Populationen einsetzen, um eine Art „Trittsteine“ zwischen den aktuellen, noch zu weit auseinander liegenden Beständen zu schaffen. Kurzfristig könnten aber auch einzelne Individuen zwischen den ausgewilderten Populationen ausgetauscht werden, um deren Diversität zu erhöhen.
So oder so ist laut den Wissenschaftlern eine ausgedehntere Überwachung der bereits bestehenden Populationen für eine erfolgreiche und flächendeckende Wiederansiedlung notwendig. „Angesichts der beobachteten genetischen Konsequenzen ist eine standardisierte und regelmäßige genomische Untersuchung ausgewilderter Luchsbestände besonders wichtig. Nur so können wir einen kritischen Grad an genetischer Verarmung erkennen und rechtzeitig Maßnahmen treffen“, erklärt Seniorautor Carsten Nowak, ebenfalls vom Senckenberg Institut Frankfurt. „Solche Maßnahmen können sich wiederum auf die Vitalität und Anpassungsfähigkeit der Luchsbestände und damit ihre langfristige Erhaltung auswirken.“
Quelle: Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseen, Fachartikel: Biological Conservation, doi: 10.1016/j.biocon.2021.109442