Parallelwelt im Untergrund
Seither ist klar: Es gibt eine Art Parallelwelt im Untergrund – die tiefe Biosphäre. Ob diese Organismen dort allerdings nur in einer Art Ruhezustand überdauern, was genau sie fressen und wie sie ihre Energie erzeugen – diese Fragen waren bisher nur zum Teil beantwortet. Ein Grund dafür ist, dass bisher nur ein Bruchteil aller Bewohner dieser Tiefenzone überhaupt bekannt ist.
William Orsi von der Woods Hole Oceanographic Institution (WHOI) und seine Kollegen wählten daher einen molekularen Ansatz, um mehr über die tiefe Biosphäre zu erfahren. Sie entnahmen Proben aus einem Sedimentbohrkern, der im Rahmen des Ocean Drilling Program vor der Küste Perus gewonnen worden war und analysierten die darin befindliche Boten-RNA. Diese Biomoleküle entstehen, wenn Gene der DNA aktiv sind und abgelesen werden, um Proteine zu produzieren. Die Boten-RNA dient dabei als Transporteur: Sie bringt den Bauplan für ein Protein von der DNA im Zellkern zu den Proteinfabriken der Zelle. Findet man eine dieser Boten, lässt sich daraus ablesen, was in der Zelle gerade vorging: welche Strukturen sie gerade ausbildete und welche Stoffwechselvorgänge abliefen.
Sie schwimmen, fressen und vermehren sich
Tatsächlich wurden die Forscher fündig: Sie stießen auf Boten-RNA, die über einer Milliarde Bauplan-Abschnitten im Erbgut von Mikroben und anderen Bewohner der Tiefe entsprach. Nähere Analysen ergaben, dass viele RNA-Abschnitte Anweisungen zur Zellteilung enthielten. “Das ist der erste molekulare Beweis dafür, dass sich die Zellen in der tiefen Biosphäre tatsächlich teilen”, konstatiert Orsi. Und dass sie sich sogar aktiv fortbewegen: Viele RNA-Stücke entpuppten sich als Bauanleitungen für Teile beweglicher Geißeln und anderer, für die Bewegung wichtiger Bauteile und Moleküle. “Der Kern dieses Funds ist: Wenn es Raum genug gibt, um sich zu bewegen, dann tun sie dies auch”, erklärt Orsi. Einige schwimmen mit Hilfe ihrer propellerartig rotierenden Geißeln durch die wassergefüllten Poren im Gestein, andere gleiten über die Oberfläche von Körnern.
Auch über die Ernährungsgewohnheiten der Mikroben mehr als hundert Meter unter dem Meeresgrund verriet die RNA etwas: Sie enthielt Bauanleitungen für Enzyme, die Schwefelverbindungen und Nitrate abbauen. “Dass die Bewohner der lichtlosen Tiefen statt Sauerstoff Sulfat verstoffwechseln, hat man schon vorher angenommen”, erklärt Orsi. Aber jetzt zeige sich, dass auch die Reduktion von Nitrat dort eine wichtige Rolle spiele. Und Räuber oder Kannibalismus gibt es in der tiefen Biosphäre ebenfalls: Die Forscher fanden Hinweise darauf, dass einige Zellen auch Aminosäuren verzehren. Diese aber können nur aus den Zellen anderer lebender oder gerade abgestorbener Organismen stammen.
Wie die Forscher betonen, liefern ihre Ergebnisse nicht nur einen einzigartigen Überblick über die tiefe Lebenswelt. Der Fund von so viel Aktivität im Untergrund hat auch Bedeutung für unser Verständnis der biochemischen Kreisläufe auf unserem Planeten. “Da unten gibt es eine gewaltige Biosphäre und sie hat daher auch schon rein rechnerisch einen großen Anteil”, sagt Orsi. Vor allem für die Kreisläufe von Kohlenstoff und Stickstoff spiele die tiefe Biosphäre eine wichtige Rolle.