Das Ziel ist hoch gesteckt: Hunger, Armut, Krieg und Umweltzerstörung sollen aus der Welt, vor allem aus der unterentwickelten Welt, verschwinden. Das klingt ein bisschen nach Größenwahn – und gleichzeitig sehr amerikanisch: Mithilfe eines kleinen, lustig grün gefärbten Computers sollen sich die Schüler überall auf dem Globus so weit bilden, dass sie diese Probleme lösen können. Wer auf eine solche Idee kommt, muss entweder übergeschnappt sein – oder ein Visionär mit besten Verbindungen.
Nicholas Negroponte ist Letzteres. Bekannt wurde der Sohn eines griechischen Reeders und Bruder des amerikanischen Vize-Außenministers durch die Gründung des Media Lab am renommierten Massachussetts Institute of Technology (MIT) und durch sein 1995 erschienenes Buch „Being Digital” (auf Deutsch: „ Total digital”), das zur Bibel der Internet-Generation wurde.
Darin beklagte Negroponte die zunehmende Spaltung in „ information haves” und „information have nots” – also Informierte und Informations-Habenichtse – in der entwickelten und der unterentwickelten Welt.
Und nun das: ein Laptop, der den Kindern in der Dritten Welt Zugang zu Bildung und Informationen verschaffen soll. Um dieses Ziel zu erreichen, hat Negroponte sein Amt als Chef des Media Lab niedergelegt und das Projekt „One Laptop per Child” (OLPC) gegründet. Vor zwei Jahren präsentierte er OLPC erstmals der Öffentlichkeit. Ein Dreivierteljahr später stellte er zusammen mit UN-Generalsekretär Kofi Annan einen ersten Prototyp des Laptops vor. Die Nachfrage blieb nicht lange aus: „Das weltweite Interesse”, freut sich der Internet-Visionär, „ist größer als das Interesse an allem, was ich vorher getan und gesehen habe” – und das obwohl sich ein Land verpflichten muss, mindestens eine Million Rechner zu bestellen.
Doch es gehe nicht um Laptops, sagt Negroponte. „Das hier ist kein Laptop-, sondern ein Bildungsprojekt”, wird er nicht müde zu betonen. Das Gerät soll den Kindern in den unterentwickelten Ländern Zugang zu den gleichen Informationen ermöglichen wie den Kindern in der Ersten Welt. Es reiche nicht aus, die Schulen in Ordnung zu bringen oder Lehrer auszubilden, betont Negroponte: „ Das dauert viel zu lange.” Natürlich heißt das nicht, dass man die Verbesserung von Schulbetrieb und Lehrerausbildung deshalb lassen sollte, fügt er hinzu. „Aber die Alternative, die uns vorschwebt, ist, die Kinder selbst in Schwung zu bringen, indem wir ihnen einen vernetzten Laptop geben.”
Ein Computer als Bildungsmaschine: Mit ihr können die Schüler wie mit jedem anderen PC schreiben, rechnen, spielen und Musik machen. Mit nach außen gedrehtem Bildschirm etwa wird aus dem Rechner ein elektronisches Buch. Dazu lässt sich der Bildschirm in einen kontrastreichen Schwarzweiß-Modus umschalten, in dem der Bildschirminhalt auch bei starker Sonneneinstrahlung noch gut lesbar ist. Doch das „XO” genannte Gerät kann noch mehr – kommunizieren zum Beispiel. Das können andere Computer zwar auch. Allerdings machen sie es den Nutzern nicht so leicht: Klappt man die beiden an Hasenohren erinnernden Antennen aus, nimmt der XO mit allen anderen erreichbaren Geräten Verbindung auf. Hat einer der Computer über einen Satelliten Verbindung zum Internet, sind auch alle mit ihm verbundenen Rechner online.
Die Idee hinter dieser Netzwerk-Technologie ist, nicht nur einen schnellen und unkomplizierten Zugang zur digitalen Informationswelt zu bieten. Die Schüler können so auch mit ihresgleichen kommunizieren, vor allem aber zusammen arbeiten, etwa die Hausaufgaben gemeinsam lösen. Die Initiatoren haben deshalb die Programmierer aufgefordert, die Software so zu gestalten, dass Schüler und Lehrer sie gemeinsam über das Netz nutzen können. Die Benutzeroberfläche „Sugar” wurde daher getrimmt, um die Gruppenarbeit zu vereinfachen. Das System erlaubt es den Schülern, von der Grundeinstellung in einen „ Freunde-Modus” umzuschalten, der anzeigt, welche Freunde gerade online sind und was sie machen.
Damit das Projekt nicht astronomische Summen verschlingt – immerhin will die Organisation etwa eine Milliarde Kinder mit Computern versorgen –, setzt OLPC nicht auf aktuelle handelsübliche Geräte. Ein Laptop koste derzeit etwa so viel wie vor zehn Jahren, sagt Negroponte. „Die Tendenz von elektronischen Geräten, alle 18 Monate um die Hälfte günstiger zu werden, gleichen die Hersteller aus, indem sie immer neue Merkmale hinzufügen.” OLPC verzichtet auf zusätzliche Funktionalitäten und profitiert stattdessen lieber vom Preisverfall. Verglichen mit gängigen Computern nimmt sich der XO daher recht bescheiden aus: Der Prozessor des Laptops rechnet mit einer Taktfrequenz von gerade mal 366 Megahertz, der Arbeitsspeicher umfasst bescheidene 128 Megabyte. Der Stabilität zuliebe wurde auf bewegliche Teile wie Lüfter, Laufwerke und sogar auf eine Festplatte verzichtet. Als Speichermedium dient ein gegen Vibrationen resistenter Flash-Speicher mit einer Kapazität von 512 Megabyte.
Allerdings kann selbst das robusteste Gerät kaputtgehen, auch wenn die Initiative bisher nur gute Erfahrungen gemacht hat: In einem dreieinhalb Jahre dauernden Pilotprojekt habe nur ein Einziger von 50 Laptops seinen Dienst quittiert. Die Kinder seien sehr sorgfältig mit den Geräten umgegangen – weil es, wie Negroponte betont, ihre eigenen sind. Dennoch ist für den Fall, dass ein Gerät im Busch zu Bruch geht, vorgesorgt: Fast alle Reparaturen, etwa der Austausch von Leuchtdioden für die Hintergrundbeleuchtung des Bildschirms, könnten die Kinder selbst erledigen. Die entsprechenden Anweisungen sind auf dem Computer gespeichert. Ist das Problem größer, wird der defekte Rechner in ein zentrales Depot geschickt, wo Profis ihn wieder in Gang bringen. Ein solches Depot soll in jedem Land, das an dem Projekt teilnimmt, eingerichtet werden. Jede Schule erhält außerdem einige zusätzliche Laptops, um Ausfälle auszugleichen.
Der Rechner ist also robust, netzwerkfähig und pädagogisch wertvoll einsetzbar – und damit gut für die Arbeit in Schulen geeignet. Doch woher bekommen Kinder im Regenwald Amazoniens oder in der Sahara den Strom für ihren Computer? Die Versorgung mit Elektrizität – eine regelmäßige zumal – gehört schließlich zu den großen Problemen in der unterentwickelten Welt.
Auch hier haben sich die Designer etwas einfallen lassen: Die Akkus des Laptops können nicht nur an einer konventionellen Steckdose aufgeladen werden. Zusammen mit dem Laptop wird ein Generator ausgeliefert, der von dem kalifornischen Unternehmen Squid Labs, einer Ausgründung des Media Lab, entwickelt wurde. Das Gerät sieht aus wie ein Jo-Jo, das aus zwei Eishockey-Pucks zusammengesetzt ist. Wenn man an einer Schnur zieht, erzeugt es den Strom für die Laptop-Akkus – oder für andere elektrische Geräte. Eine Minute Arbeit mit dem Jo-Jo-Generator erzeugt nach Herstellerangaben genug Energie für zehn Minuten Computernutzung. Sollte die Schnur einmal reißen, lässt sie sich einfach durch eine andere oder durch einen Schnürsenkel ersetzen. Damit die Schüler nicht mehr Zeit mit Laden als mit Lernen verbringen, ist die Software auf geringen Stromverbrauch optimiert worden.
Und wer zahlt? „In unserem Modell zahlt niemals das Kind”, sagt Negroponte. Das Geld kommt von der Regierung. Tatsächlich, rechnet Negroponte vor, könne es sich jedes Land leisten, an dem Projekt teilzunehmen: Derzeit kostet ein Laptop etwa 175 Dollar – das sind umgerechnet 130 Euro. Mit steigender Produktion sollen die Kosten bis spätestens 2009 auf 100 Dollar sinken. Es ist auch möglich, dass reichere Länder die Kosten für die armen übernehmen. Libyens Staatschef Muammar al-Gaddafi etwa bot an, den Nachbarn Tschad und Niger sowie Ruanda die Computer zu finanzieren. Negroponte wünscht sich, dass auch die Industrieländer solche Patenschaften eingehen. Deutschland wird sich an dieser Initiative wohl nicht beteiligen. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung begrüßt nach Angaben von Ministeriumssprecher Markus Weidling zwar „die Absicht Negropontes, die digitale Lücke zu überwinden”. Doch Partnerschaften für ein bestimmtes Land, wie sie OLPC vorschweben, seien nicht geplant. „Ein so isolierter Ansatz erscheint wenig nachhaltig”, sagt Weidling. Allerdings unterstütze man eine Reihe anderer IT-Projekte.
Zurzeit werden die ersten Lerncomputer an Kinder in mehreren Ländern ausgeliefert, darunter Libyen, Argentinien und Brasilien. Also ein Erfolg auf der ganzen Linie für den guten Mann aus Massachussetts? Kaum hatte Negroponte das Projekt in Davos vorgestellt, geriet er heftig in die Kritik. Die richtete sich gegen das ambitionierte Projekt und das Gerät, das als technische Spielerei verspottet wurde, aber auch gegen den Initiator selbst. Einige der Kritiker sind relativ einfach zu durchschauen – Intel-Chef Craig Barrett und Microsoft-Gründer Bill Gates etwa. Ihre Ablehnung gegenüber dem OLPC-Projekt rührt möglicherweise daher, dass die beiden Giganten der IT-Branche nicht beteiligt wurden: Die Prozessoren liefert Intel-Konkurrent AMD, das Betriebssystem ist Linux, nicht das Microsoft-Produkt Windows. Ursprünglich hatte Negroponte auch mit Apple und Microsoft über den Einsatz ihrer Betriebssysteme verhandelt. Die Verhandlungen scheiterten daran, dass beide Unternehmen nicht bereit waren, deren Quellcode zu veröffentlichen.
Sachlich gibt es offenbar wenig gegen den 100-Dollar-Laptop einzuwenden. Carsten Hellpap von der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) fällt „kein richtig starkes Gegenargument” ein. Hellpap hat eine Reihe von Kriterien für die Einführung von Technologien in Entwicklungsländern mit entwickelt. Zu diesen Beurteilungskriterien gehören etwa die Kosten. Dabei plädiert die GTZ dafür, dass die Technologie für die ärmere Bevölkerung sowohl in der Anschaffung als auch im Unterhalt bezahlbar sein müsse, um keine sozialen Unterschiede aufkommen zu lassen. Solche Unterschiede verhindert OLPC schon dadurch, dass die Rechner kostenlos an die Schüler verteilt werden.
Weiterhin fragt die GTZ nach Punkten wie Umweltfolgen, Bedienbarkeit und Robustheit der Technologie. An all das ist gedacht: So wurde mit „Sugar” eigens eine kindgerechte Benutzeroberfläche entwickelt. Bei den Materialien ist stark auf Umweltverträglichkeit geachtet worden.
Es bleibt die Frage nach dem grundsätzlichen Nutzen des Projekts. Er sehe sich oft mit dem Vorwurf konfrontiert, warum er den Kindern Laptops geben wolle, wenn sie doch hungern, in schlechten gesundheitlichen Verhältnissen leben und kein sauberes Wasser zum Trinken haben. Ob sich das Geld für die Laptops nicht nützlicher einsetzen ließe.
Die Antwort des OLPC-Organisators: „Ersetzen Sie einfach das Wort Laptop durch Bildung.” Selbstverständlich sei es das Wichtigste, erst die Grundbedürfnisse der Kinder zu befriedigen – doch wenn die gestillt sind, sei eine gute Schulausbildung der nächste entscheidende Schritt in eine gesicherte Zukunft. Und dafür sei ein Laptop ein sehr geeignetes Mittel, sagt GTZ-Mitarbeiter Hellpap. Das würden die Erfahrungen der GTZ mit eigenen Internet-Projekten beweisen: Die Leistungen der Schüler verbesserten sich wesentlich, nachdem sie die Möglichkeit bekommen hatten, im Internet zu recherchieren. ■
Werner Pluta arbeitet als Wissenschafts- und Technikjournalist in Hamburg. Er ist regelmäßiger Autor von bild der wissenschaft.
Werner Pluta
Ohne Titel
· Der Internet-Visionär Nicholas Negroponte will möglichst alle Kinder der Dritten Welt mit einem Laptop ausstatten.
· Die Regierungen sollen die Rechner bezahlen, die den Kindern Zugang zu Informationen und Bildung ermöglichen.
· Den nötigen Strom liefert ein per Hand betriebener Generator.
Ohne Titel
OLPC ist nicht die einzige Organisation, die Kinder in der Dritten Welt mit Informationstechnologie ausrüsten will. Auf der Website von „Information for Development”, einem Programm, an dem auch die Weltbank beteiligt ist, sind etwa 30 vergleichbare Projekte aufgeführt.
Microsoft beispielsweise unterstützt die Ziele von OLPC. Allerdings präsentierte der Software-Riese 2006 als Alternative zu XO ein Mobiltelefon. Es verfügt über Anschlüsse für eine Tastatur und einen externen Bildschirm – Microsoft denkt an einen Fernseher. Gründer Bill Gates hält dieses Gerät für den besten Weg, die ärmeren Länder in das digitale Zeitalter zu holen. „ Jeder wird ein Handy haben. Wir machen uns dagegen ernsthafte Sorgen, ob der Laptop-Ansatz wirklich nachhaltig ist”, sagte er der New York Times.
Der Chip-Hersteller Intel hat im vergangenen Jahr das auf fünf Jahre angelegte Programm „World Ahead” ins Leben gerufen und dafür eine Milliarde Dollar bereitgestellt. „Eduwise” oder „ Classmate PC” heißt der etwa 300 Dollar teure Computer, den der Chip-Gigant für Schüler in der Dritten Welt entwickelt hat. Einen Abnehmer gibt es laut Intel bereits: Mexiko will 300 000 Rechner haben.
COMMUNITY Internet
Website von „One Laptop per Child”:
www.laptop.org
Potenco, Hersteller des Jo-Jo-Generators:
www.potenco.com/index.html
Website des Media Lab am MIT: www.media.mit.edu
Negropontes persönliche Website am MIT: web.media.mit.edu/~nicholas
„Information for Development” – Liste mit IT-Projekten für Entwicklungsländer:
infoDev.org/devices-list
Demo der Benutzeroberfläche „Sugar”:
www.youtube.com/watch?v=DwzCsOFxT-U