In einem zunächst recht unscheinbar wirkenden Raum am Höchstleistungsrechenzentrum Stuttgart (HLRS) gibt es einen Vorgeschmack auf die Stadtplanung von morgen. Hier entstehen ganze Städte als virtuelle 3D-Darstellung. Wer sich ihr mit einer Virtual-Reality-Brille nähert, sieht eine Stadt aus der Vogelperspektive oder steht auf ihren Straßen und Plätzen – im Maßstab 1:1 mit realitätsnahem Umfeld. Was schon optisch beeindruckend ist, hat einen tieferen Sinn: Solche Visualisierungen sollen die Stadtplanung verbessern, weg vom Kleinklein der Einzelmaßnahmen und hin zu einer integrierten Gesamtschau.
„In einer Stadt hängt alles miteinander zusammen – Gebäude, Energie, Umwelt, Mobilität, soziale und ästhetische Aspekte“, sagt Uwe Wössner. Der Ingenieur leitet am HLRS die Abteilung Visualisierung und forscht mit seinem Team und seinen Kooperationspartnern an Methoden, mit denen sich dieser Komplexität bei der Planung und Entscheidungsfindung besser Rechnung tragen lässt.
„Wenn heute ein Areal neu bebaut und gestaltet wird, dann sind daran diverse Fachplanungsbüros beteiligt“, erklärt Wössner. Ein Büro erstellt zum Beispiel den Bebauungsplan mit Gebäuden und Grünflächen, andere sind für das Verkehrskonzept oder die Energie- und Wärmeversorgung verantwortlich. „So entstehen viele Teilergebnisse, oft in Form von zweidimensionalen Plänen und Karten. Aber es entsteht keine integrierte Gesamtschau“, beklagt Wössner. Die Folgen kennen viele vom privaten Hausbau: Auf der Baustelle erweist sich manches als unpraktikabel, was in der Planung problemlos ausgesehen hat. Auf der Ebene der Stadt- und Quartiersplanung ist das Grundproblem ähnlich.
Simulieren und visualisieren
Abhilfe würde ein digitaler Zwilling schaffen. „Er besteht aus einem realistischen Modell der Stadt mit ihren Gebäuden und Straßen. Dieses Modell lässt sich dann immer weiter mit georeferenzierten Daten anreichern“, erklärt Wössner. Georeferenziert bedeutet, dass die Daten sich exakt einem Ort im Modell zuordnen lassen. Solche Daten können sehr unterschiedlicher Natur sein: etwa Verkehrsströme, die Konzentration von Stickoxiden, Luftströmungen, der Wasserbedarf städtischer Bäume oder das Müllaufkommen. „Dann lässt sich vieles simulieren und visualisieren, sodass Verwaltung, Politik und Zivilgesellschaft sich ein besseres Bild vom Ist-Zustand und den womöglich geplanten Maßnahmen machen können – bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist“, stellt der Forscher fest.
Wie man sich eine solche integrierte Planung vorstellen kann, verdeutlicht ein 2023 angelaufenes Forschungsprojekt, das vom HLRS und der Universität Stuttgart gemeinsam verwirklicht wird. In dem Vorhaben namens DiTEnS (Discursive Transformation of Energy Systems) wollen die Projektbeteiligten den Gestaltungs- und Entscheidungsprozess für eine nachhaltige lokale Energieversorgung mit digitalen Zwillingen und Visualisierungen erleichtern. Bekanntlich soll die gesamte Europäische Union bis 2050 – Deutschland sogar schon bis 2045 – klimaneutral werden.
Neben dem Sektor der Stromversorgung muss sich dafür auch maßgeblich der Wärmesektor verändern. Denn die Erzeugung von Wärme für Gebäude verursacht in Deutschland ungefähr ein Fünftel der Treibhausgasemissionen und verbraucht ein Drittel der Energie.
Abwärme für den Campus
Im Forschungsprojekt betrachten Wössner und die weiteren Beteiligten zunächst den Stuttgarter Universitätscampus Vaihingen, der bereits bis 2030 klimaneutral werden soll. Eine wichtige Komponente ist ein Neubau, in der ein neuer Supercomputer des HLRS stehen wird. „Mit der Abwärme dieses Rechners lässt sich im Sommer der gesamte Wärmebedarf des Campus decken, im Winter immer noch rund ein Drittel“, verdeutlicht Uwe Wössner das Potenzial zum Energiesparen. Bislang verpufft die Abwärme der existierenden Rechner des Stuttgarter Höchstleistungsrechenzentrums weitgehend ungenutzt.
In der virtuellen 3D-Darstellung des Uni-Campus steht das neue Gebäude bereits und ist auch im Inneren begehbar. Unterirdisch verlaufen auf dem virtuellen Gelände Rohrleitungen, die das Gebäude mit dem Nahwärmenetz des Campus verbinden, um die Abwärme nutzbar zu machen. „So lässt sich sehr realistisch simulieren, welche technischen Maßnahmen im Bestandswärmenetz sowie möglicherweise an angeschlossenen Bestandsgebäuden erforderlich werden“, erklärt Wössner.