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Schwitzen im Rumpfstumpf

Technik|Digitales

Schwitzen im Rumpfstumpf
Durch vielfältige Tests und Simulationen wissen die Wissenschaftler ziemlich genau, in welchem Raumklima wir uns behaglich fühlen. Wenig erforscht sind indes Gerüche: Wenn Plastikteile stinken, ist die Nase das beste Messgerät.

„Wir bitten Sie, Ihre Handys und elektronischen Geräte auszuschalten. Bitte klappen Sie die Tische hoch und stellen Sie die Sitzlehnen senkrecht.” Kaum ist die freundliche Stimme aus dem Lautsprecher verstummt, brüllen die Triebwerke auf, die Sitze rütteln und die Maschine hebt ab. Oder auch nicht. Denn wir befinden uns zwar in einem echten Verkehrsflugzeug, doch der Flug ist nur vorgetäuscht.

Der Triebwerkslärm kommt aus Lautsprechern, und Vibratoren rütteln die Sitze wie bei der Fahrt über die Startbahn. Und das Kabinenpersonal, das Getränke und Snacks serviert, sind zwei Wissenschaftler des Fraunhofer-Instituts für Bauphysik (IBP) in Holzkirchen bei München. Seit gut einem Jahr steht dort in einer Halle aus aufgeblasenen Luftkissen eine 30 Meter lange Niederdruckröhre mit einem Durchmesser von fast zehn Metern. Darin befindet sich das gut 15 Meter lange Vorderteil eines Airbus A310, der einst bei Armenian Airlines seinen Dienst verrichtete – mitsamt dem Cockpit und 62 schon etwas verschlissenen Sitzplätzen.

Der Jet in der Röhre ist die weltweit einzige Versuchseinrichtung dieser Art eigens für Klima- und Komforttests. „Wir wollen untersuchen, wie sich Flugreisende fühlen, wenn sie niedrigem Luftdruck und trockener Luft ausgesetzt sind”, sagt Erhard Mayer, Physiker und Initiator der Testeinrichtung – und das unter möglichst realistischen Bedingungen. Druck, Temperatur, Feuchtigkeit – alles wird im Keller unter der Versuchshalle gesteuert, geradeso wie bei einem echten Flug. Der Druck im Inneren entspricht dann mit etwa 750 Hektopascal dem Kabinendruck in einem Verkehrsflugzeug und dem Luftdruck am Gipfel der Zugspitze. Über dicke Lüftungskanäle strömt minus 40 Grad Celsius kalte Luft in einer zusätzlichen Außenhaut über den Jet. Für die perfekte Illusion soll demnächst ein Beamer sorgen, der draußen Sonnenlicht und Wolken simuliert – derzeit sind die Wolkenbilder nur auf die Fenster geklebt.

Ein Test dauert so lange wie eine echte durchschnittliche Flugreise: zwischen 3,5 und 8 Stunden. Der Vorteil in der Teströhre: Fühlt sich jemand unwohl, kann über eine Druckschleuse der Luftdruck in wenigen Minuten wieder auf normales Voralpenniveau hochgeregelt werden und ein Arzt an Bord kommen. Während des Fluges von Holzkirchen nach Holzkirchen, bei dem sich der Rumpfstumpf keinen Millimeter bewegt, müssen die Passagiere Fragebögen ausfüllen. War es zu warm oder zu kalt, wurden die Augen trocken, traten Atembeschwerden auf ? Die Fragebögen von mehreren Hundert Testpassagieren auf etlichen Flügen werden für das EU-Projekt FACE (Friendly Aircraft Cabin Environment) ausgewertet. Sie sollen helfen, das Klima künftiger Flugzeuge zu verbessern. Das wird immer wichtiger, denn der Flugverkehr nimmt nach allen Prognosen auch in den nächsten 15 Jahren jedes Jahr um fünf Prozent zu, ebenso die Flugdauer: Passagiere und Kabinenpersonal sind heute bis zu 17 Stunden am Stück in der Luft.

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Die einzigartige Versuchseinrichtung am IBP wurde gebaut, weil der Mensch nach wie vor die besten Aussagen über die Behaglichkeit macht. Allerdings müssen diese subjektiven Eindrücke mit physikalischen Größen verknüpft werden, denn nur die können die Ingenieure beeinflussen. Der Mensch spürt Kälte, doch wie sie zustande kommt, kann er schlecht einschätzen, denn meistens ist gar nicht die Temperatur zu niedrig, sondern die Luftbewegung zu stark. Deshalb reist bei jedem Testflug ein blinder Passagier namens „Dressman” mit. Der „Dummy REpresenting Suit for Simulation of huMAN heatloss” trägt einen Overall, der mit bis zu 32 Sensoren von der Größe einer Zigarettenschachtel bestückt ist. Einer ist mit Klettband an der Stirn der Schaufensterpuppe befestigt, andere sitzen auf der Brust oder an den Beinen. Auch lebende Testpersonen ziehen sich den orangefarbenen Overall ab und zu über.

Die Sensoren sind mit einer künstlichen Haut bestückt, einer wenige Zentimeter großen Membran, die mit einer Leistung von etwa 100 Watt pro Quadratmeter beheizt wird und damit den Wärmeverlust der Haut nachahmt. Gemessen wird die Oberflächentemperatur der Membran, die mit der Temperatur oder dem Luftzug in der Kabine schwankt. Die Messwerte gelangen per Funk auf einen Rechner im Flugzeug. Die Oberflächentemperatur entscheidet über das Behaglichkeitsgefühl der Flugpassagiere. Solche Sensoren benutzen auch Autohersteller, wenn sie den Klimakomfort in einem Fahrzeug messen, zum Beispiel den Luftzug im offenen Cabrio, der die gefühlte Temperatur senkt.

Die Erkenntnisse zur lokalen Behaglichkeit von bestimmten Körperteilen fließen in Simulationen ein, mit denen sich ohne böse Überraschungen wohlige Innenräume von Flugzeugen, Eisenbahnabteilen oder Büros entwerfen lassen – schneller und zu deutlich geringeren Kosten als bisher. An der Technischen Universität München hat Christoph van Treeck ComfSim entwickelt: ein Klimakomfortmodell für Innenräume, das Änderungen in Echtzeit erlaubt. Dauerten solche Simulationen früher mehrere Tage, so errechnet ComfSim die Behaglichkeitsparameter auf Knopfdruck in Sekundenschnelle – belegt dabei allerdings mit 1000 Prozessoren rund ein Viertel der Rechenkapazität des neuen Supercomputers am Münchner Leibniz-Rechenzentrum. Für qualitative Aussagen mit einem grobmaschigen Simulationsgitter reicht auch weniger Rechenpower.

Was der Rechner ausspuckt, ist beeindruckend. Auf drei riesigen Leinwänden, die die Wände eines mittelgroßen Besprechungsraumes bedecken und vom Projektpartner Siemens beigesteuert wurden, können die Wissenschaftler Tische und Schränke in einem virtuellen Büro verschieben – samt der darin sitzenden Menschen – oder die Bestuhlung in einem Eisenbahnwaggon. Der Supercomputer errechnet, wie sich Luftströmung, Luftdruck und Temperatur dadurch verändern. Das Ziel ist, die Behaglichkeit über blaue (zu kalt) und rote (zu warm) Farben direkt sichtbar zu machen – und zwar abhängig von der Bekleidung und körperlichen Aktivität der virtuellen Menschmodelle. Die Simulation soll neben den Ergebnissen des Fraunhofer IBP zur lokalen Behaglichkeit künftig auch Daten zu Baustoffen enthalten, beispielsweise wie sich die Oberflächentemperaturen von Wänden und Möbeln im Lauf eines Tages durch die Sonneneinstrahlung ändern.

Die Forscher wissen heute eine Menge darüber, bei welchen Witterungsbedingungen sich ein Mensch wohl fühlt. Das Behaglichkeitsfenster ist sehr schmal: Nackt, ohne Wind und sonstige Witterungseinflüsse befindet sich die Kalt-Warm-Schwelle bei erstaunlich hohen 29 Grad Celsius. Dann liegen die Temperaturen von Haut (34 Grad) und Stammhirn (37 Grad) – unseren wichtigsten Temperaturregulatoren – in der Komfortzone. Steigt die Temperatur, schwitzen wir zusätzlich zur ohnehin vorhandenen Verdunstung, sinkt sie, beginnen wir zu frieren – schon Zehntelgrade sind spürbar. Wenn man schwitzt, helfen kühle Getränke oder Eis, weil sie über den Mund das Stammhirn kühlen, das für die Temperaturregelung des Körpers zuständig ist.

Diese Angaben sind aber nur Anhaltspunkte. „Denn selbst bei optimaler Temperatur sind immer noch 20 Prozent der Testpersonen unzufrieden”, hat Erhard Mayer in seinen Testreihen festgestellt. Das kann auch zu Beziehungsstress führen, weil bei vielen Frauen die Kalt-Warm-Schwelle geringfügig höher liegt als bei vielen Männern.

Um einen vermeintlich höheren Klimakomfort zu erzielen, werden immer mehr Gebäude mit Klimaanlagen ausgestattet, die selbst im Hochsommer Temperaturen um die 20 Grad erzeugen. Doch damit begibt sich die Menschheit in einen doppelten Teufelskreis: Abgesehen vom steigenden Energiekonsum, der den Treibhauseffekt weiter anstachelt, verliert unser Körper dadurch auch die Fähigkeit zur Akklimatisierung.

Untersuchungen zur Klimaadaption in tropischen Ländern zeigen, dass die Komforttemperatur dort normalerweise höher liegt als in unseren Breiten. „Doch die Klimatisierung drückt diese Komforttemperatur”, sagt Michael Laar vom Institut für Tropentechnologie der Fachhochschule Köln. Die Folge: Die Diskrepanz zwischen angenehm empfundener und tatsächlicher Temperatur im Freien wird immer größer, und die Menschen kommen mit großen Temperaturschwankungen immer weniger zurecht.

Laar hat Studenten in Rio de Janeiro beobachtet und festgestellt, dass sich diese bereits drei Viertel des Tages in klimatisierten Räumen aufhalten. Selbst in den Favelas, den Armenvierteln Rio de Janeiros, besitzt bereits jeder fünfte Bewohner ein Klimagerät.

Die Wissenschaftler plädieren für eine natürliche Klimatisierung von Gebäuden, die Wetter und Jahreszeiten folgt, ohne die Unterschiede völlig auszuschalten. Das Fraunhofer-Institut für Bauphysik entwickelt dazu Dämmmaterialien, die im Winter die Wärme im Haus halten und im Sommer die Hitze draußen.

Was für die Temperatur gilt, gilt auch für die Feuchtigkeit. Beim Innenausbau favorisieren die Fraunhofer-Forscher neue Verbundmaterialien mit offenen Poren, die als Feuchtepuffer wirken und zum Beispiel in Bädern einen Teil der häufig bis unter die Decke gefliesten Fläche ersetzen sollen. Für die Behaglichkeit sind aber auch Beleuchtung und Akustik in einem Gebäude wichtig und werden seit Langem erforscht.

Noch wenig bekannt ist der Einfluss von Gerüchen auf unser Wohlbefinden, wahrscheinlich weil sich die Nase nur schwer technisch nachbilden lässt und systematische physikalische Messmethoden rar sind. Hier müssen sich die Firmen – zum Beispiel die Automobilhersteller – nach wie vor auf das Urteilsvermögen unseres Riechorgans verlassen.

Handlungsbedarf besteht, wenn sich Kundenbeschwerden über unangenehme Gerüche im Auto häufen, die meist von Plastikteilen ausgehen. Die Palette der in Frage kommenden Geruchsstoffe ist riesig: Formaldehyd, Xylol, Toluol, Weichmacher in Klebern und Polymeren. 200 bis 300 Substanzen emittiert ein einziges Kunststoffbauteil, etwa ein Zehntel davon kann man riechen. Für alle diese Stoffe gibt es Grenzwerte der Hersteller, doch nicht immer halten die Zulieferer diese Werte ein.

Um einer Substanz auf die Spur zu kommen, sperren die Fraunhofer-Forscher das verdächtige Bauteil in eine Kammer aus Edelstahl. Die Kammer selbst ist absolut geruchlos und von Luft durchströmt, die die Geruchsmoleküle in einen so genannten Riechtrichter leitet. Eine Testperson bewertet nun den Geruch nach vorgegebenen Kriterien wie angenehm oder unangenehm. Zuvor werden die Probanden mit Düften aus der Dose „geeicht”. Untrainierte Testpersonen geben an, ob sie den Geruch akzeptabel finden oder nicht, trainierte Tester können dagegen die Intensität von Gerüchen relativ genau einer Skala zuordnen, die der dänische Wissenschaftler Ole Fanger von der Technischen Universität Dänemark in Lyngby entwickelt hat. Übrigens: Die Maßeinheit „1 Olf” entspricht der Geruchsemission einer ruhenden Person, ein starker Raucher stinkt mit 25 Olf und ein schwitzender Athlet sogar mit 30 Olf.

Mit solchen Tests lässt sich feststellen, ob ein Kunststoffteil mehr oder weniger intensiv riecht. Gummi bringt es zum Beispiel auf 0,6 Olf pro Quadratmeter. Aus welchen Bestandteilen sich dieser Geruch zusammensetzt, vermag aber selbst eine empfindliche Nase nicht zu entscheiden. Deshalb favorisiert Florian Mayer vom IBP eine trickreiche Kombination aus Nase und Messtechnik.

Der Lebensmittelchemiker leitet die Luft aus der Edelstahlkammer durch ein Absorbermaterial, das die Geruchsstoffe bindet. Beim Aufheizen des Absorbers werden die Substanzen nach und nach wieder freigesetzt und in einen Gaschromatographen geschickt. Der erstellt ein Spektrum der Luftbeimengungen und misst, wie viel von welchem Stoff enthalten ist. Parallel dazu markiert eine Testperson in dem Ausdruck, wann ein Geruch wahrzunehmen ist.

Erstaunlich ist, dass es für jeden Stoff eine bestimmte Geruchsschwelle gibt. Manche Stoffe, die in großer Menge enthalten sind, riecht unsere Nase nicht. Andere empfinden wir dagegen selbst in winzigen Mengen als unangenehm. Manchmal ist die Konzentration eines Geruchsstoffs sogar so gering, dass das Messgerät ihn gar nicht erkennt, unsere Nase dagegen schon. Um die individuelle Geruchsschwelle zu finden, wird eine geruchsintensive Substanz so lange verdünnt, bis der Tester sie gerade noch wahrnimmt.

Weil in die Geruchskammern aus Edelstahl nur kleinere Bauteile passen, nicht jedoch ganze Autos, hat das Fraunhofer IBP eine Garage so umgebaut, dass sich die Messungen auch im Inneren eines Fahrzeugs ausführen lassen. Dazu wird ein dünnes Rohr über der verklebten Seitenscheibe in den Wagen eingeführt, das die Luft aus dem Inneren absaugt und in eine kleine Kammer von der Größe einer Telefonzelle leitet, in der die Testperson steht.

Um welches Automodell es sich handelt, darf der Tester nicht sehen, ein Vorhang verhindert das. Dann werden mehrere Tausend Watt starke Lampen eingeschaltet, die einen heißen Sommertag simulieren und die Ausdünstung des Kunststoffs beschleunigen.

„Der Geruch von Autos mit Lederausstattung und Holzteilen wird als angenehmer empfunden”, hat Mayer festgestellt – die meisten Autokäufer wussten das indes schon vorher. Wenig Hoffnung macht Mayer Autobesitzern, die übliche Gerüche von Zigarettenqualm oder billigem Kunststoff mit einem Anti-Geruchsspray oder dem süßlich-penetranten Wunderbaum vernichten wollen. „Das übertüncht nur den schlechten Geruch, der Geruch selbst verschwindet aber nicht.” ■

BERND MÜLLER arbeitet als freier Wissenschaftsjournalist in Esslingen. Die Fotos schoss VOLKER STEGER, der bdw seit Jahren regelmäßig mit Bildreportagen beliefert.

Bernd Müller

Ohne Titel

• Eine ausrangierte und umgebaute Flugzeugkabine dient den Forschern als weltweit einzigartige Testeinrichtung.

• Menschen können in Innenräumen Temperaturschwankungen von nur wenigen Zehntelgraden wahrnehmen.

COMMUNITY INTERNET

Freilandversuchsstelle Holzkirchen des Fraunhofer-Instituts für Bauphysik:

www.hoki.ibp.fraunhofer.de/ibp/ information.html

„Klima an Bord” – Beitrag der Lufthansa über die Klimatisierung in Flugzeugen:

konzern.lufthansa.com/de/downloads/presse/downloads/publikationen/ report_klima.pdf

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
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