Schon lange träumen die Physiker davon, die Kernfusion, die im Inneren der Sonne abläuft, in Reaktoren nachzuvollziehen, um dadurch Strom zu erzeugen. Den Durchbruch erwarten die Forscher durch ITER – ein multinationales Vorhaben im südfranzösischen Cadarache, bei dem 2018 die ersten Fusionsreaktionen zünden sollen. „ITER soll zeigen, dass man mit der kontrollierten Kernfusion tatsächlich Energie produzieren kann”, erläutert Norbert Holtkamp, technischer Direktor des Megaprojekts. Doch schon jetzt ist klar: Das größte Fusionsexperiment aller Zeiten droht kostspieliger zu werden als vorgesehen: Statt der geplanten 5,3 Milliarden Euro könnte der 30 Meter hohe Gigant womöglich doppelt so viel kosten. Das befürchten seine Konstrukteure, nachdem sie die Baupläne in den letzten beiden Jahren gründlich überarbeitet haben. Noch ist unklar, wie hoch der Aufpreis letztlich gerät und wer für die Mehrkosten aufkommt.
Das Prinzip: In einer riesigen, reifenförmigen Vakuumkammer schließt der Reaktor mithilfe wuchtiger Magneten ein Gasgemisch aus Deuterium und Tritium ein, um es auf ein über 100 Millionen Grad heißes Plasma zu erhitzen. Bei dieser Höllentemperatur sind die Wasserstoffkerne schnell genug, um bei Zusammenstößen zu Helium zu verschmelzen. Dabei wird Energie frei, mit der sich über eine Turbine Strom erzeugen lässt. Die Macher versprechen sich langfristig eine sichere, unerschöpfliche und Klima schonende Energiequelle. ITER gilt als Nagelprobe für die Kernfusion – der erste Fusionsreaktor, der mehr Energie erzeugen soll, als man in ihn hineinsteckt.
Nervöse Zuckungen im Gas
Bereits 1998 hatten die Forscher einen Entwurf für die Maschine vorgelegt. Geschätzte Kosten damals: umgerechnet 6,5 Milliarden Euro. Das war den Politikern zu teuer. Zähneknirschend setzten die Physiker den Rotstift an – und legten im Juli 2001 die Blaupausen für einen abgespeckten ITER vor. Der Durchmesser des Reaktorreifens war von 16 auf 12 Meter, die Leistung von 1500 auf 500 Megawatt geschrumpft. Dann dauerte es noch bis 2005, ehe sich Japan, China, Russland, Indien, Südkorea, die USA und die Europäische Union darauf einigen konnten, den Reaktor in Frankreich zu bauen – zu einem Preis von rund fünf Milliarden Euro.
In jüngster Zeit haben die Physiker gemerkt, dass sie ITER nicht so bauen können, wie sie es geplant hatten. So sorgten Computersimulationen für eine unliebsame Entdeckung: In der Nähe der Reaktorwand wird das extrem heiße Plasma wohl beträchtliche Instabilitäten zeigen, sogenannte ELMs – nervöse Zuckungen des überhitzten Wasserstoffgases, die die Wände von ITER deutlich stärker angreifen dürften als angenommen. Zwar ersannen die Physiker ein Gegenmittel: zusätzliche Magnetspulen, um die ELM-Instabilitäten im Zaum zu halten. Aber: „Der Einbau dieser Spulen kostet Geld, und wir mussten das Design der Reaktorkammer grundlegend überarbeiten”, klagt Holtkamp. Auch an anderer Stelle mussten die Forscher die ursprüngliche Kalkulation korrigieren. So sind die Preise für die benötigten Rohstoffe Stahl, Kupfer und Niob in den letzten Jahren rapide gestiegen. Und: „Beim Design der Anlage ist mit sehr engem Gürtel gearbeitet worden”, meint Hartmut Zohm, Direktor am Max-Planck-Institut für Plasmaphysik (IPP) in Garching. „Die Planer haben damals zu knapp kalkuliert und an manchen Stellen die Komplexität des Projekts unterschätzt.”
Doch damit nicht genug „Vor allem hakt es an der eigenartigen Projektstruktur von ITER”, bemängelte ein Komitee unabhängiger Experten um den britischen Fusionsforscher Frank Briscoe in einem Zwischenbericht vom November 2008. Das Projekt besitzt zwar eine Zentrale, ansässig in Cadarache. Doch dort wird nur ein Zehntel des Etats verwaltet. Den Löwenanteil – also 90 Prozent – bringen die sieben internationalen Partner direkt ein: Jedes Partnerland ist für Konstruktion und Bau bestimmter Komponenten zuständig. So soll Südkorea große Teile der Vakuumkammern liefern und Indien einen Teil der Heizsysteme.
doppelt so teuer
Das Problem dabei: „Man muss sicherstellen, dass die aus aller Welt kommenden hochkomplexen Teile perfekt zusammenpassen”, sagt Zohm. „Dabei entstehen Reibungsverluste, und die wurden am Anfang unterschätzt.” Um die Verluste zu minimieren, sucht das ITER-Team derzeit nach einer effektiveren Arbeitsteilung zwischen der Zentrale und den sieben Partnern. Eine Liste mit organisatorischen Nachbesserungen soll bis Ende 2009 fertig sein. Ein Beispiel: „Oft ist es nicht sinnvoll, dass die Partner wie geplant ihre Leute nach Frankreich schicken, um bestimmte Komponenten zu montieren oder zu testen”, sagt Holtkamp. „Die müssten sich nämlich für Monate oder Jahre ein Hotel nehmen, was unnötige Kosten verursacht.” Nach Auffassung Holtkamps könnte stattdessen das Personal vor Ort diese Jobs übernehmen.
Momentan wollen die Forscher nicht ausschließen, dass der Reaktor doppelt so teuer wird und am Ende zehn statt fünf Milliarden Euro kostet. Die Ungewissheit liegt unter anderem daran, dass die sieben ITER-Partner noch mit ihren Industrieunternehmen um die Aufträge feilschen. Doch vielleicht profitiert die Fusionsgemeinde dabei sogar von der aktuellen Wirtschaftskrise: Die Unternehmen sind deutlich schlechter ausgelastet als noch vor einem Jahr und dürften derzeit zu Preisnachlässen eher bereit sein als damals. Norbert Holtkamp: „ Die Zahlen sind im Moment im Fluss.”
Dennoch scheint klar: Um das Projekt zu retten, werden die Partner noch einmal tief ins Portemonnaie greifen müssen. Da die Europäische Union wegen des Standorts fast die Hälfte der Riesenmaschine zahlt, ist deren Bürde besonders hoch. „Deshalb müssen wir alle 27 EU-Staaten davon überzeugen, dass wir uns einen Misserfolg von ITER nicht leisten können und deshalb zusätzliche Mittel aufzubringen haben”, mahnt Octavi Quintana-Trias, Forschungsdirektor bei Euratom, der Atomenergieabteilung der Europäischen Kommission. „Denn falls ITER scheitert, ist die Kernfusion tot.” Denkbar ist, dass das Projekt gestreckt wird, dass ITER also nicht 2018 die erste Fusionsreaktion zündet, sondern erst Jahre später. ■
Frank Grotelüschen ist Wissenschaftsjournalist in Hamburg. Das Projekt ITER verfolgt er für bild der wissenschaft seit etlichen Jahren.
von Frank Grotelüschen