Ein Alien-artiges Wesen mit einem blitzschnellen Greif-Werkzeug: Wie die mysteriöse Fangmaske der Libellenlarven funktioniert, haben Forscher nun erstmals aufgeklärt. Das spezielle biomechanische Konzept, das die rasante Bewegung ermöglicht, konnten sie auch anhand eines Robotersystems verdeutlichen. Der Libellenlarven-Roboter zeigt zudem das Potenzial des Naturpatents für die Entwicklung von schnellen und präzisen Bewegungsverfahren in der Technik auf, berichten die Wissenschaftler.
Elegant sausen sie am Ufer von Teichen und Seen durch die Luft – doch in diesem geflügelten Erwachsenenstadium verbringen die Libellen nur einen vergleichsweise kurzen Abschnitt ihres Lebens. Die meiste Zeit existieren sie als Larven am Grund der Gewässer. Dort lauern die rabiaten Räuber Mückenlarven und anderen Beutetieren auf. Ihre Opfer ereilt das Schicksal schlagartig: Libellenlarven besitzen am Kopf eine spezielle Fangmaske, die sie in Sekundenbruchteilen nach vorn schnellen lassen können, um Beutetiere zu greifen (Siehe Video).
Doch wie funktioniert das bizarre Greifinstrument? Zu dem biomechanischen Prinzip, das die Hochgeschwindigkeitsbewegung ermöglicht, gab es bisher nur Annahmen. Man ging davon aus, dass es sich um einen hauptsächlich hydraulischen Vortrieb handeln müsse. Doch ein Forscherteam der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel wollten es nun genauer wissen. Um die Funktionsweise zu entschlüsseln, untersuchten sie die Fangmaske der Insektenlarven mithilfe verschiedener interdisziplinärer Analysetechniken. Vor allem moderne Verfahren der Computertomografie lieferten dabei Einblicke in den inneren Aufbau der winzigen Struktur.
Ein duales Katapultsystem
So zeigte sich: Ein Hydrauliksystem gibt es nicht. Der Vortrieb der Mundwerkzeuge der Libellenlarven funktioniert stattdessen über ein steuerbares Katapultsystem: eine innere, elastische Struktur im Libellenkopf, die wie eine Sprungfeder von einem Muskel gespannt wird. Dabei wird die Energie des Muskels gespeichert und schlagartig freigesetzt, ähnlich wie bei einem gespannten Bogen. Derartige Systeme sind im Tierreich zwar weit verbreitet – etwa bei Heuschrecken, Zikaden oder Fangschreckenkrebsen. Doch bei den Libellenlarven gibt es eine Besonderheit, die bisher noch nicht beschrieben wurde: Es liegt ein synchronisiertes, duales Katapultsystem vor. „Zwei Katapulte liegen in einer Struktur, können aber individuell vorgespannt werden. Sie arbeiten zusammen, um die Fangmaske präzise zu steuern“, erklärt Co-Autor Alexander Köhnsen.
Um diese Funktionsweise zu bestätigen und zu veranschaulichen, haben die Forscher die komplexen Abläufe zunächst mittels 3D-Animationen visualisiert. Anschließend haben sie dann einen Roboter im 3D-Druckverfahren gefertigt, der die Greifmaske der Libellenlarven nachbildet. „Einer der großen Vorteile von bioinspirierten Robotern ist die Möglichkeit, Ideen über biologische Funktionsprinzipien zu testen, die anders sehr schwer zu überprüfen wären. Robotik funktioniert idealerweise in zwei Richtungen: Wir lernen etwas über die Biologie und entwickeln etwas technisch Anwendbares“, sagt Erstautor Sebastian Büsse.
Potenzial für die Robotik
Durch die Simulationen und vor allem den Libellenlarven-Roboter wurde deutlich, dass die unabhängige Steuerung von zwei Katapulten innerhalb eines Systems eine bessere Kontrolle schneller Bewegungen ermöglichen kann. Dabei handelt es sich um ein interessantes Konzept für Anwendungen in der Robotik, sagen die Forscher. „Das System erlaubt eine bessere Steuerung eines katapultgetriebenen Vorganges, zum Beispiel dem Springen, wodurch zusätzliche Kontroll- und Stabilisationssysteme kleiner und leichter ausfallen könnten. Dadurch ließe sich die Leistung und Effizienz solcher Roboter erhöhen“, sagt Büsse.
Seniorautor Stanislav Gorb sagt abschließend über die Studie: „Nach vielfältigen, modernen Struktur- und Bewegungsanalysen am Ende einen funktionierenden, bioinspirierten Roboter zu entwickeln, der durch seinen speziellen Aufbau einen tieferen Einblick in die Funktionsweise des biologischen Vorbildes ermöglicht hat – das war fantastisch.“
Quelle: Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Fachartikel: Science Robotics, doi: 10.1126/scirobotics.abc8170
Eine Libellenlarve greift Beute mit ihrem Fang-Apparat. (Video: Christian-Albrechts-Universität zu Kiel)