30. Mai 2004, am frühen Morgen: Vier junge Männer im Alter zwischen 22 und 29 Jahren sterben bei einem Unfall auf der B 29 in der Nähe von Plüderhausen in Baden-Württemberg. Der Wagen rast mit hohem Tempo an die Leitplanke und schleudert gegen einen Baum. Die Unfallursache bleibt unklar. Für Werner Wiesenfarth, Verkehrspädagoge beim ADAC, ist es ein typisches Beispiel für einen Unfall, bei dem vielleicht „Sekundenschlaf” im Spiel war: Der Fahrer war möglicherweise übermüdet und ist am Steuer eingenickt.
Übermüdung als Auslöser eines Unfalls lässt sich schwer nachweisen. Die Polizei kann oft nur darüber spekulieren – etwa, wenn, wie an jenem Morgen auf der B 29, ein Auto ungebremst und ohne ersichtlichen Grund von der Fahrbahn abgekommen ist. Dennoch gelangen verschiedene Studien übereinstimmend zu dem Resultat, dass auf Autobahnen bei etwa 25 Prozent aller Unfälle Müdigkeit des Fahrers eine Rolle spielte. In der EU, schätzen Experten, kommen jährlich etwa 10 000 Menschen durch müdigkeitsbedingte Unfälle ums Leben. In Deutschland dürfte die Zahl der Toten bei rund 1500 liegen – das ist ein Viertel aller etwa 6000 Verkehrstoten auf deutschen Straßen.
Am höchsten ist das Unfallrisiko durch Müdigkeit zwischen 2 und 5 Uhr morgens – bei Fernfahrern ist es dann rund fünf- bis zehnmal so hoch wie zu anderen Tageszeiten. Auch tagsüber wächst die Gefahr nach einigen Stunden langer und monotoner Fahrt drastisch.
„Das Problem liegt nicht etwa darin, dass der Fahrer nicht bemerkt, wenn er müde wird, sondern darin, dass er unterschätzt, wie kritisch die Situation bereits ist”, sagt Dietrich Manstetten, Referent für Informations- und Systemtechnik im Bereich Forschung und Vorausentwicklung bei Bosch in Stuttgart. „ Der Fahrer kann selbst nicht zuverlässig einschätzen, ob er noch in der Lage ist, seinen Wagen zu führen.” Der Punkt der völligen Ermüdung kommt sehr schnell – und dann ist es oft zu spät, um noch zu reagieren.
Wissenschaftler bei Bosch befassen sich seit einigen Jahren mit diesem Problem. Ihr Ziel ist es, die Zahl von Unfällen durch technische Systeme zu senken, die eine Ermüdung des Fahrers frühzeitig erkennen und ihn vor der Gefahr warnen. Eine knifflige Aufgabe, denn bislang hat man sich in der Forschung darauf konzentriert, die verschiedenen Schlafphasen beim Menschen zu untersuchen – über den Übergangszustand Müdigkeit und woran man ihn zuverlässig erkennt, ist dagegen kaum etwas bekannt.
Stuttgarter Forscher bei Bosch sowie am Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) entwickelten und testeten nun eine Reihe ganz verschiedener Erkennungssysteme, darunter Sensoren, die – im Lenkrad oder am Gurt angebracht – diverse Körperdaten wie Herzfrequenz, Atmung, Muskelanspannung oder Schweißabsonderung der Haut messen. Mit Hilfe von Kameras nahmen die Wissenschaftler Kopfbewegungen von Testpersonen auf, ebenso wie das Fahrverhalten: „Viele Fahrer versuchen unbewusst, langweilige Fahrsituationen aufzulockern, indem sie schneller fahren, um sich wieder mehr Konzentration abzuverlangen”, sagt Maria Rimini-Döring, Leiterin des Bosch-Forschungsprojekts zur Müdigkeitserkennung. Studien zeigen zudem: Je müder ein Fahrer wird, desto seltener und gleichzeitig ruckartiger werden seine Lenkbewegungen.
Die meisten messbaren Parameter taugen jedoch nicht für ein rechtzeitiges und sicheres Erkennen von Müdigkeit. „Sie weisen entweder nicht zuverlässig genug auf ein Nachlassen der Aufmerksamkeit hin oder erst zu spät”, sagt Rimini-Döring. Doch die Experimente zeigten, dass ein anderer Indikator sehr aussagefähig ist: das Lidschlussverhalten. „Die Häufigkeit und die Geschwindigkeit, mit der man die Augenlider schließt, sowie der Grad der Augenöffnung zeigen sehr empfindlich den Müdigkeitszustand des Fahrers an”, sagt der Psychologe Arnd Engeln, der bei Bosch gemeinsame Arbeiten mit BMW und der Uni Würzburg zur lidschlussbasierten Müdigkeitserkennung koordiniert.
Das Lidschlussverhalten lässt sich demnach mit vier verschiedenen Müdigkeitsphasen in Verbindung bringen. Im wachen Zustand blinzelt man nur selten, und die Augen werden jeweils schnell wieder geöffnet. Lässt die Wachsamkeit allmählich nach – Wissenschaftler nennen diesen Zustand „vigilanzgemindert” –, nimmt die Häufigkeit des Blinzelns zu. Ist jemand müde geworden, so verlangsamt sich sein Blinzeln und der Lidschluss dauert deutlich länger als im wachen Zustand. Wenn der Fahrer schließlich schläfrig wird, senken sich die Lider, und die Augen sind im Mittel deutlich weniger weit geöffnet.
Ein im Auto installiertes Kamerasystem kann die Bewegung der Augenlider beobachten und – zusammen mit einer Auswertesoftware – den Übergang zwischen den verschiedenen Müdigkeitsstadien erkennen. Ein Warnsignal, das auf dem Innenspiegel eingeblendet wird, und eine Stimme aus dem Lautsprecher ermahnen den Fahrer dann, anzuhalten und sich auszuruhen – so die Vorstellung eier gemeinsamen Forschergruppe des Fraunhofer-IAO und der Universität Stuttgart für eine Umsetzung der Technik im Fahrzeug. Als zusätzlichen Wink an den Fahrer könnte zudem der Gurt vibrieren. Ein entsprechendes Warnsystem haben die IAO-Forscher im Rahmen des EU-Projekts „Awake” entwickelt. Und Wissenschaftler am Institut für Psychologie der Universität Würzburg tüftelten im Auftrag von Bosch und BMW ein reines Rückmeldesystem aus, das den Fahrer kontinuierlich über seinen Müdigkeitsverlauf informieren kann.
In Fahrsimulatoren wurde die Tauglichkeit solcher Müdigkeitswarner bereits ausgiebig geprüft. Die Probanden mussten dazu in einem vor einer großen Projektionsfläche stehenden Auto stundenlang langweilige simulierte Straßen entlang fahren – bis sie ermüdeten. In dem Wagen angebrachte Kameras erfassten währenddessen die Bewegungen der Augenlider. „Inzwischen sind drei Fahrzeuge mit einem System zur Müdigkeitserkennung ausgestattet”, berichtet Manfred Dangelmaier, Leiter des Competence Centers Virtual Environments am IAO. So dreht ein Mercedes auf dem Berliner Ring seine Runden, und ein Fiat sowie ein Lkw fahren kreuz und quer durch Europa, um zu belegen, dass sich das System bewährt.
Schon jetzt ist klar, dass noch etliche Verbesserungen nötig sind, bevor die Technik in Serienfahrzeugen Einzug halten kann. So liegt die Erkennungsrate momentan bei etwa 67 Prozent. Das heißt: Jedes dritte Mal entgeht dem System eine Ermüdung des Testfahrers. Ziel ist es, eine Fehlerquote von unter einem Prozent zu erreichen. „Ein Problem ist, dass bei der kamerabasierten Lidschlusserkennung stark geschminkte Augen oder eine dunkle Brille das System leicht in die Irre führen und Störungen sowie Fehlalarmen auslösen”, sagt Bosch-Forscher Engeln. Doch nur, wenn ein Müdigkeitswarner keinen falschen Alarm schlägt, den der Autofahrer als nervig und ärgerlich empfindet, wird ein solches System akzeptiert, davon ist Engeln überzeugt.
Wann in den ersten Autos Müdigkeitswarner mit Kamera zum Einsatz kommen werden, darüber wagt keiner der beteiligten Forscher eine Prognose. Wahrscheinlich werden solche Systeme zuerst in Lkws und Bussen eingeführt, bevor sie auch in Pkws Einzug halten werden. ■
Cynthia Mouchbahani