“So ist es auch mit den verschiedenen wissenschaftlichen Theorien, wenn sie aufeinander prallen und um die Vorherrschaft konkurrieren”, sagt Dieter Lüst. Und eine Ergänzung liegt nahe: So kann man sich im Mikrokosmos die Wechselwirkung, Vereinigung und Trennung von Strings und Branen vorstellen. Diese ominösen Gebilde flattern durch neun oder zehn Raum-Dimensionen, sind die Bausteine der Materie und Kräfte, und sie erschaffen womöglich sogar Raum und Zeit. Mit dieser extrem abstrakten Vorstellung beschreibt die Stringtheorie das ganze Universum ? und möglicherweise Myriaden andere. Was den Alltagsverstand radikal überfordert, steht den Physikern jetzt ausnahmsweise einmal deutlich vor Augen ? wenn auch nur zweidimensional: in Gestalt des Bildes ” Kämpfende Formen“. Gemalt hat es der Münchner Künstler Franz Marc 1914 (in dem Jahr, in dem er selbst in einen irrsinnigen Kampf zog, der ihn zwei Jahre später das Leben kosten sollte).
Abstrakte Kunst mit vielen Facetten
Dieses Bild ist das offizielle Signet der Strings2012-Konferenz, die diese Woche an der Ludwig-Maximilians-Universität München stattfindet. Es hängt in der Pinakothek der Moderne. Dort fand am Montagabend auch die Rezeption zur Eröffnung des kolossalen Meetings der Stringtheoretiker statt, nachdem die Teilnehmer schon einen harten Tag im theoretischen “Kampf” mit Strings und Branen durchgestanden hatten. Da war ein exklusiver Gang durch die Galerie für viele eine Erholung. Andere diskutierten indessen noch munter weiter über ihre neuesten Forschungen. Und angesichts der Kunst des Blauen Reiters und der daneben hängenden Surrealisten, Kubisten & Co. wirkten die Modelle der Stringtheorie schon gar nicht mehr so weltfremd. Abstrakte Kunst hat eben viele Facetten.
Dieter Lüst, Cheforganisator der Konferenz und Sprecher des Arnold Sommerfeld Center für Theoretische Physik der Ludwig-Maximilians-Universität unweit der Pinakothek, hat sich mit seinem Team mächtig ins Zeug gelegt, um der Weltelite der Stringtheoretiker auch angenehme und abwechslungsreiche “Randbedingungen” zu bieten. Heute geht’s beispielsweise zum Schloss Neuschwanstein, morgen Abend ins Hofbräuhaus. Jeder Physiker weiß ja, wie wichtig Randbedingungen neben den Gesetzen sind. Das wurde in der Stringtheorie in den letzten Jahren besonders deutlich.
Lüst, der auch Direktor am Max-Planck-Institut für Physik und Forschungskoordinator des Exzellenzcluster Universe ist, einem hochkarätigen Forschungsverbund, hat im vergangenen Jahrzehnt eine schlagkräftige String-Truppe in München aufgebaut, begrüßte die Konferenzteilnehmer in der Pinakothek mit einer Erläuterung des Marc-Gemäldes. Strings2012 ist die zweite Konferenz, die in Deutschland abgehalten wird (letztes Jahr war sie im schwedischen Uppsala, 2013 geht sie nach Seoul, Korea). Zum ersten Mal war diese jährlich stattfindende Zusammenkunft 1999 hierzulande zu Gast: in Potsdam unter der Leitung von Hermann Nicolai, Direktor am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik. Damals schaffte es ein Konferenzfoto sogar auf das Cover des Nachrichtenmagazins “Der Spiegel”. Das war aber weniger der Stringtheorie zu verdanken, als Stephen Hawking, der einen Hauptvortrag hielt und bis heute die Stringtheorie oder ihre Erweiterung, die M-Theorie, als besten Kandidaten für eine “Weltformel” ansieht.
“1999 hatten wir fast exakt dieselbe Zahl der Teilnehmer, was zeigt, dass das Forschungsfeld noch genauso attraktiv ist”, schmunzelte Nicolai auf der gestrigen Pressekonferenz von Strings2012. “Auch alle anderen hier am Tisch waren damals schon dabei”, ergänzte Dieter Lüst. Und meinte: David J. Gross, inzwischen (2004) mit dem Physik-Nobelpreis ausgezeichnet; Edward Witten, der mit der Fields-Medaille das Nobel-Äquivalent auf dem Gebiet der Mathematik erhalten hatte; und Juan Maldacena, der 1997 einen der am häufigsten zitierten Stringtheorie-Fachartikel überhaupt geschrieben hatte, über eine erstaunliche Entdeckung, die inzwischen in viel “profanere” Themen der Physik ausstrahlt und Stephen Hawking dazu bewogen hatte, eine spektakuläre Wette verloren zu geben und seine ursprüngliche Auffassung zu revidieren, wonach Schwarze Löcher alle physikalischen Informationen unwiderbringlich verschlucken.
Quantenfische und andere Universen
Die Stringtheorie bietet nicht nur eine Erklärung des Allerkleinsten an. Sie könnte auch der Schlüssel zum Verständnis des Universums als Ganzes sein ? und darüber hinaus. So versuchen einige der Forscher gegenwärtig, den Urknall und die Zukunft des Universums im Rahmen einer Stringkosmologie zu erklären.
Aber die Hypothesen der Forscher transzendieren unsere Welt. In den letzten Jahren wurde immer deutlicher, dass die Stringtheorie die Existenz vieler anderer Universen erlaubt ? oder vielleicht sogar erzwingt ?, deren physikalische Eigenschaften sehr verschieden von unserem Universum sind (dazu mehr in bild der wissenschaft 4/2004). Das hängt mit den zusätzlichen Raum-Dimensionen zusammen, die es nach der Stringtheorie geben muss.
Dieter Lüst, der als einer der ersten die Existenz dieser sogenannten String-Landschaft vorausgesagt hatte, vergleicht die Situation in seinem sehr lesenswerten populärwissenschaftlichen Buch Quantenfische (C.H. Beck, 2011) mit zahlreichen Tümpeln. In denen können ganz unterschiedliche Bedingungen herrschen. Nur dort, wo bestimmte Eigenschaften zusammen kommen, können beispielsweise Fische leben. Ein Fisch, der von all diesen Tümpeln wüsste, bräuchte sich also nicht zu wundern, dass sein eigener Teich bestimmte “lebensfreundliche” Eigenschaften besitzt, denn andernfalls könnte er gar nicht existieren und damit auch gar nicht die Welt bestaunen.
Diese ? nicht unumstrittene ? Argumentation kommt auch in der Kosmologie zum Einsatz, um beispielsweise zu verstehen, warum der Wert von Albert Einsteins ominöser Kosmologischer Konstante so klein ist, wie er zu sein scheint. Wäre er größer, hätte sich der Weltraum seit dem Urknall so schnell ausgedehnt, dass sich keine Galaxien hätten bilden können; wäre er negativ, dann hätte das Universum längst zu einem Endknall zusammenstürzen müssen und würde uns ebenfalls keine Rätsel aufgeben. Insofern macht die Hypothese von der String-Landschaft aus der Not vielleicht sogar eine Tugend. Wenn es all diese zahllosen Universen gibt, die durch Raum und Zeit von unserem getrennt und somit selbst mit den besten Teleskopen nicht zu erspähen sind, dann mögen die meisten ganz unwirtliche Eigenschaften haben, aber zufällig sind auch welche darunter, die die Evolution von Leben ermöglichen ? von Fischen bis zu Stringtheoretikern, die nach solchen abenteuerlichen Erkenntnissen angeln.
Überdimensionale Strings
Von der String-Landschaft sind freilich nicht alle Forscher begeistert. Wenn nämlich alle Möglichkeiten realisiert wären, dann ist die Stringtheorie vielleicht nicht überprüfbar ? denn sie würde alles und nichts voraussagen. Kritiker meinen sogar, die Theorie wäre dann gar keine Wissenschaft mehr.
?Das ist nicht wahr?, widerspricht aber Juan Maldacena. ?Die Stringtheorie kann sehr wohl falsifiziert werden. Schon eine Widerlegung der üblichen Quantenphysik reicht dazu aus.? Denn diese ist als eine Voraussetzung der Stringtheorie bereits ein Teil von ihr. Und umgekehrt lassen sich auch Voraussagen der Stringtheorie im Prinzip durchaus testen. Zum Beispiel könnte es relative große Zusatzdimensionen geben, vielleicht bis in die Größenordnung von Mikrometern, und das wäre mit Teilchenbeschleunigern wie dem LHC bei Genf nachweisbar. Oder astronomische Beobachtungen kommen zu Hilfe: Edward Witten hat beispielsweise berechnet, dass kosmische Superstrings durchs Weltall schwirren könnten, die sich auf verschiedene Weisen bemerkbar machen würden. Auch sie sind ein Beispiel für die rigorose und durchaus selbstkritische Arbeit der Theoretiker: Witten hatte nämlich ursprünglich argumentiert, dass die winzigen ?Saiten?, die der Stringtheorie zufolge die Musik der Welt erzeugen, keine astronomische Dimension erreichen können ? und musste mit genaueren Berechnungen später erkennen, dass dies ein Fehler war.
Am kommenden Samstag wird Edward Witten ? einer der größten Physiker der Gegenwart, Träger der Fields-Medaille (eine Art Mathematik-Nobelpreis) und ?Entdecker? der M-Theorie ? einen öffentlichen Vortrag in der Aula der Universität halten: “String Theory And The Universe”. Zuvor, um 10.30 Uhr, wird Rolf Heuer, Generaldirektor des CERN, über den aktuellen Stand der LHC-Messungen sprechen sowie über das Higgs-Teilchen. Wer also einen direkten Blick auf die Forschungsfront der Theoretischen und Experimentellen Physik werfen möchte, ist herzlich willkommen.
Die Suche nach der Weltformel
Trotz aller Fortschritte der letzten Jahre ist die Stringtheorie allerdings noch keineswegs eine etablierte Theorie wie etwa die Quantenfeldtheorie oder die Relativitätstheorie, die sie zu vereinigen beansprucht. David Gross, Wittens ehemaliger Doktor-Vater und ?Mitentdecker? der sogenannten Heterotischen Stringtheorie (die ein Teil der M-Theorie ist), gibt zu, dass die Stringtheoretiker ?in der unbequemen Situation sind, nicht sicher zu sein? über die Grundlagen ihrer Theorie. ?Vielleicht fehlt noch etwas Wesentliches.? Auch Edward Witten vermutet, dass ein fundamentales Prinzip bislang seiner Entdeckung harrt. ?Aber wir können jetzt schon unsere Werkzeuge überprüfen, unsere intellektuellen Rahmenbedingungen?, betont Gross. ?Es geht dabei um die innere Widerspruchsfreiheit und die Erklärungskraft der Theorie.?
Daher ist die Stringtheorie ? mit einer Vielzahl von Universen oder auch bloß als Theorie für unser einziges ? keineswegs ein beliebiges Glasperlenspiel. Im Gegenteil: Die mathematische Struktur der Theorie ist derart raffiniert, dass sie keine Willkür duldet ? aber andererseits auch viele überraschende Schlussfolgerungen erlaubt, die den Horizont des bisherigen Standardmodells der Teilchenphysik wesentlich erweitert. Noch bis Freitagabend werden die Stringtheoretiker über diese Aspekte in der Großen Aula der LMU diskutieren (wo übrigens 1946 die Verfassung des Freistaats Bayern beschlossen wurde).
Wilde mathematische Formeln flitzen über die Leinwand des Hörsaals; und in den Pausen werden sogar Servietten mit Rechnungen bekritzelt. Gut möglich, dass der nächste große Durchbruch auf der Suche nach einer ?Weltformel? bereits in einer der vielen Gleichungen steckt.