Carl Benz stand vor einem großen Problem. In seiner Mannheimer Werkstatt hatte er ein Fahrzeug ausgetüftelt, das sich sehen lassen konnte – den dreirädrigen Patentmotorwagen Nr. 3 mit Benzinmotor, Speichenrädern und Klappverdeck und einer Höchstgeschwindigkeit von immerhin 20 Kilometern pro Stunde. Der Wagen rollte zuverlässig dahin. Doch niemand wollte ihn kaufen. Wozu 3000 Mark für ein Dreirad berappen – das entsprach etwa 1000 Tageslöhnen eines Bergarbeiters –, wenn es komfortable Kutschen gab?
Es ist wohl seiner Frau Bertha zu verdanken, dass Benz wenig später dennoch zu einem erfolgreichen Automobilproduzenten wurde. Im August 1888 setzte sie sich zusammen mit ihren zwei Söhnen in das Vehikel und tuckerte los zur ersten großen Überlandfahrt in einem Automobil: 106 Kilometer von Mannheim nach Pforzheim und zurück. Ihr Mann wusste nichts davon. Heute würde man von einem Marketing-Coup sprechen. Dabei wollte Bertha Benz nur beweisen, dass ihr Mann Wertarbeit geleistet hatte. Tatsächlich überstand Nr. 3 die Fahrt über staubige Landstraßen und buckliges Kopfsteinpflaster. Und sorgte für großes Aufsehen.
Fahrerlos auf Berthas Fährte
Heute können geschichtlich Interessierte diese Strecke auf der Bertha-Benz-Memorial-Route von Mannheim nach Pforzheim nachfahren. Sie führt am Neckar und an Weinbergen entlang, durch 23 Dörfer und Städte, über Landstraßen, durch enge Gassen und Tempo-30-Zonen. Im Sommer 2013 haben Forscher vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) diese Strecke zu einem neuen Härtetest genutzt: Unter der Leitung des Automobilkonzerns Daimler wollten sie beweisen, dass ein aufgerüsteter S-Klasse-Mercedes die Strecke autonom bewältigen kann – ohne dass ein Mensch steuert und bremst.
Am autonomen Fahren arbeiten Ingenieure schon seit gut 30 Jahren. Stück für Stück haben sie sich dabei einem großen Ziel genähert: dem Autopiloten für das Auto. Autos können heute bereits von selbst in Parklücken fahren – und auf der Autobahn dank Radarsensor Abstand zum Vordermann halten. In den vergangenen zehn Jahren gab es an unterschiedlichen Orten weltweit Wettrennen, bei denen Forschungsfahrzeuge von allein ihren Weg durch einen Testparcours finden mussten. Im Frühjahr 2014 schickte die Firma Google in den USA als erstes Unternehmen autonom fahrende Autos ohne Lenkrad und Pedale los, die aus Sicherheitsgründen aber recht langsam fuhren.
Doch trotz all dieser Fortschritte wird es noch viele Jahre dauern, bis das autonom steuernde Auto für jedermann zu haben ist. Denn noch immer ist die Technik nicht gut genug, um alle Verkehrssituationen sicher zu meistern. Das zeigte auch die Fahrt von Mannheim nach Pforzheim. Die war zwar erfolgreich, machte aber auch die Grenzen der Technik deutlich. Die Forscher hatten absichtlich eine Strecke gewählt, in der das Auto viele verschiedene Situationen meistern musste, etwa durch einspurige Straßen mit Gegenverkehr und Kreisverkehr. „Wir wollten wissen, was die Technik wirklich leisten kann, wenn das Auto durch den Alltagsverkehr navigieren muss”, sagt Julius Ziegler, am Institut für Mess- und Regelungstechnik des KIT zuständig für das Projekt. Das war ein wesentlicher Unterschied zu vielen Testfahrten und Wettbewerben der vergangenen Jahre, in denen die Fahrzeuge oft nur Hauptstraßen zu bewältigen hatten. Das Besondere am Bertha-Ansatz ist auch, dass die Forscher für ihr Experiment herkömmliche und erschwingliche Sensoren verwendet haben. Bei den Google-Fahrzeugen hingegen kommen mehrere Zehntausend US-Dollar teure und hochgenaue Lasersensoren zum Einsatz.
„S-500-Intelligent-Drive” heißt das KIT-Fahrzeug. Bis es zur ersten Fahrt bereit war, mussten die Forscher einige Arbeit hineinstecken. Die Sensoren waren schnell montiert: Zu dem serienmäßig im Auto verbauten Radar für die Abstandserkennung und zur Kamera, die Verkehrsschilder wahrnimmt, kamen vier Radarsensoren für die Überwachung von Kreuzungen. Außerdem installierten die Ingenieure zwei Radarsensoren links und rechts, um beim Einbiegen in Landstraßen rasch herannahende Autos zu erspähen. Und es gab eine Kamera an der Frontscheibe, die Ampeln und Fußgänger an Kreuzungen wahrnahm, sowie eine weitere Kamera an der Heckscheibe.
Natürlich fütterten die Forscher ihre Bordcomputer vor der Fahrt mit den Regeln der Straßenverkehrsordnung wie „rechts vor links” oder dem Verbot, durchgezogene Linien zu überfahren. Doch Sensorik und Verkehrsregeln allein genügen nicht. Im dichten Verkehr etwa, wenn die Fahrbahnmarkierungen nur schlecht zu erkennen sind, braucht ein Auto bedeutend mehr, um sich zu orientieren. Die KIT-Forscher machten deshalb vor Beginn des Experiments Vermessungsfahrten, in denen sie die gesamte Strecke mit Kameras aufnahmen.
In mühevoller Handarbeit extrahierten sie daraus eine Straßenkarte, in die sie Stück für Stück Fahrspuren an Kreuzungen, Abbiegepfeile und die Videobilder von 155 Ampeln einfügten. Diesen Kartensatz speicherten sie im Bordcomputer. Und daran orientierte sich das Auto dann auf seiner Testfahrt: Das Bild der Bordkameras wurde während der Fahrt mit den Kartendaten abgeglichen. Dadurch erkannte das Auto in Sekundenbruchteilen, um welche Kreuzung, Fahr- oder Abbiegespur es sich im Detail handelte.
Orientierung mit Papierkörben
Auch feste Objekte wie Straßenlampen, Bordsteine oder Papierkörbe am Straßenrand halfen beim Kartenabgleich. „Ohne die Karte würde der Bordcomputer viel zu lange brauchen, um die Situation an einer größeren Kreuzung zu analysieren”, sagt Ziegler. „Damit wäre das Auto viel zu langsam.” Dank der Karte aber weiß es sofort, wo es ist und kann zügig weiterfahren. „Das Auto kann sich so auf den Zentimeter genau orientieren. Das ist deutlich besser als beim Navigieren mit GPS.”
Doch trotz der Karten gab es so manche kuriose Situation. „ Mitunter verhielt sich das Auto wie ein ängstlicher Fahrschüler”, berichtet Ziegler. „In Ladenburg bei Mannheim kamen wir in einer einspurigen Straße mit Gegenverkehr lange nicht aus der Lücke heraus, weil der Wagen alle entgegenkommenden Fahrzeuge vorbeiließ.” An einer anderen Stelle hielt S-500-Intelligent-Drive brav hinter einem Lieferwagen, der in zweiter Reihe parkte, weil ihm der Bordcomputer untersagte, zu weit Richtung Gegenfahrbahn zu lenken. Und auch die durchgezogenen Linien waren zunächst eine Herausforderung. Die Forscher hatten sie als unüberwindliches Hindernis einprogrammiert. Doch das erwies sich als alltagsuntauglich. „Es ist erstaunlich, wie oft man durchgezogene Linien überfahren muss, zum Beispiel, wenn ein Auto schlecht geparkt ist – wir haben den Bordcomputer dann so programmiert, dass er dem Auto erlaubt, einen halben Meter in die Gegenfahrbahn einzufahren.”
Die Forscher fuhren die Strecke Mannheim–Pforzheim mehrfach und mussten nur wenige Male für kurze Zeit das Steuer übernehmen, zum Beispiel an der Engstelle in Ladenburg. Das ist beachtlich. „ Wir haben gezeigt, dass autonomes Fahren nicht nur auf Autobahnen, sondern auch in komplexen städtischen Umgebungen möglich ist”, sagt Ziegler. „Allerdings ist das Auto noch immer deutlich schlechter als ein aufmerksamer Mensch am Steuer.”
Das zeigte sich auch an den Ampeln. Obwohl die Bilder der 155 Ampeln im Bordcomputer gespeichert waren, hatte das Fahrzeug bei etwa 50 Ampeln Mühe, die Lichtzeichen zu erkennen – vor allem bei einer Entfernung von mehr als 50 Metern. Problematisch waren besonders Ampeln im Schattenbereich von Häusern und solche, die neben Straßenlaternen oder Schildern schlecht zu erkennen waren. Auch rote Ampeln machten Schwierigkeiten, da sie dunkel wirkten.
Keine Schönwetter-Autos
Ein weiteres Problem: Das Sichtvermögen von Kamerasystemen vermindert sich stark bei schlechter Witterung, bei Regen, Nebel und Dunkelheit. Auch sonnige Tage sind wegen der starken Kontraste zwischen Schatten und gleißend hellem Himmel für die Kamera problematisch. Für Testfahrten autonomer Fahrzeuge ist ein bewölkter Himmel ideal.
Doch bislang haben sich erst wenige Forschergruppen mit dem Wetterproblem befasst – zum Beispiel das Team um Dieter Willersinn vom Karlsruher Fraunhofer- Institut für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung IOSB. Zusammen mit Kollegen aus Frankreich hat Willersinn im Projekt ICADAC für Audi eine Software entwickelt, mit der Kamerasysteme selbst einschätzen können, um wie viel schlechter sie bei Nebel oder Regen sehen. Das System kann ermitteln, wie stark Nässe von der Fahrbahn aufgewirbelt wird und die Sicht behindert. Ursprünglich sollte damit lediglich die Helligkeit der Heckleuchte gesteuert werden. Es ist aber auch denkbar, eine solche Selbstdiagnose-Funktion an die Bordelektronik eines autonomen Fahrzeugs zu koppeln. Sie könnte bei starkem Regen den Befehl geben, langsamer zu fahren, damit Fußgänger oder Radfahrer nicht übersehen werden. „Doch vermutlich fährt das Auto dann so langsam, dass es selbst zum Verkehrshindernis werden kann”, befürchtet Willersinn.
Um annähernd so sensibel zu reagieren wie ein Mensch, sind jede Menge Sensoren, Kameras oder auch Radarsysteme nötig, die sich durch Regen kaum stören lassen – außerdem leistungsstarke Bordcomputer und, wie bei S-500-Intelligent-Drive, aufwendig erzeugte Kartensätze. Einen solchen Kartierungsaufwand kann man natürlich nicht betreiben, wenn autonome Fahrzeuge überall auf der Welt umherfahren sollen. „In der Branche ist man sich einig, dass sich das autonome Fahren in den kommenden Jahrzehnten schrittweise entwickeln wird”, sagt Ziegler. Vermutlich wird es zunächst auf der Autobahn stattfinden. Dort wird zwar schnell gefahren, aber das Szenario ist für einen Automaten denkbar einfach, weil es weder Gegenverkehr noch Kreuzungen oder Fußgänger gibt.
Ein anderes Szenario ist das automatische Parkhaus, an dem unter anderem der Robotikexperte Benjamin Maidel vom Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA in Stuttgart arbeitet. Den Weg durchs Parkhaus weisen handelsübliche Laserscanner. Aus der Zentrale erfahren sie, wo sich freie Parkplätze befinden, sodass keine unnötigen Wege anfallen. „Wir denken derzeit an ein Carsharing-System, bei dem der Kunde sein Fahrzeug am Eingang des Parkhauses abholt”, sagt Maidel.
Menschen sollen das Parkhaus aus Sicherheitsgründen zunächst nicht betreten, obgleich die Fahrzeuge mit einer Notbremsfunktion ausgestattet sind. „Bis ein Carsharing-Auto einen Weg ganz allein durch ein Stadtviertel zum Kunden fahren darf, wird es noch dauern”, sagt Maidel. „Dafür brauchen wir noch schnellere Rechner und bessere Kameras.”
In fünf Stufen auf die Straßen
Dass sich das autonome Fahren nicht von heute auf morgen verwirklichen lässt, bestätigt auch eine Projektgruppe, die im Auftrag der Bundesanstalt für Straßenwesen in Bergisch Gladbach eine Studie zum automatisierten Fahren erarbeitet hat. Die Experten definieren fünf verschiedene Stufen: erstens das klassische „Driver only”, bei dem der Fahrer allein das Fahrzeug steuert. Zweitens das „assistierte Fahren”, bei dem Parkassistenten oder die automatische Abstandsregelung unter Aufsicht des Fahrers für kurze Zeit Steueraufgaben übernehmen. Drittens das „teilautomatisierte Fahren”, der sogenannte Autobahnassistent, der nicht nur den Abstand zum Vordermann, sondern auch die Fahrspur überwacht und in die Lenkung eingreift. Auch in der dritten Stufe muss der Fahrer das Auto beaufsichtigen.
Weiter in die Zukunft reicht die vierte Stufe, das „ hochautomatisierte Fahren”: Als ob ein Chauffeur am Steuer sitzen würde, kann das Auto auf der Autobahn selbstständig Gas geben, bremsen und lenken. Dieses System wäre so zuverlässig, dass der Fahrer nicht mehr auf den Verkehr achten müsste und nebenbei Zeitung lesen könnte.
Die letzte Stufe wäre dann das „Vollautomatisierte Fahren” à la Bertha-Benz-Route – ein Auto, das überall völlig autonom fahren kann. „Doch bis dahin wird es noch dauern”, sagt Markus Maurer, Professor am Institut für Regelungstechnik der Technischen Universität Braunschweig. „Die Vorstellung, automatisiert fahren zu können, ist ungeheuer faszinierend. Doch sie führt leider dazu, dass die Menschen die Möglichkeiten der Technik überschätzen. Ich gehe davon aus, dass es das vollautomatisierte Fahren nicht vor 2030 geben wird.” Und daran wird auch die eindrucksvolle Vorstellung des autonom agierenden S-500-Intelligent-Drive auf der historischen Bertha-Benz-Route nichts ändern. •
TIM SCHRÖDER verspricht sich vom autonomen Fahren vor allem ein harmonischeres Miteinander auf Autobahnen.
von Tim Schröder
Kompakt
· Bislang benötigen autonome Fahrzeuge noch digitale Straßenkarten als Wegweiser.
· Schlechte Lichtverhältnisse oder ein dichter Schilderwald verwirren den Wagen.
· Das Fahrzeug muss wissen, dass es in bestimmten Situationen gegen Regeln verstoßen darf, etwa eine Linie überfahren.