Ein Verbundwerkstoff aus Nanoröhrchen und Kunststoff wird stabiler, je stärker und häufiger er belastet wird. Dieses überraschende Verhalten haben US-amerikanische Forscher um Brent Carey von der Rice-Universität in Houston zufällig entdeckt: Sie verformten das Material mehrere Millionen Mal und dabei stellten verblüfft fest, dass es nicht wie erwartet ermüdete und brach, sondern sogar um zwölf Prozent an Festigkeit gewann. Einen ähnlichen Trainingseffekt gibt es auch bei Muskeln und Knochen, erläutern die Wissenschaftler. Welche physikalischen und chemischen Prozesse im Fall des neuen Verbundwerkstoffs für die ungewöhnliche Eigenschaft verantwortlich sind, wissen die Forscher noch nicht. Sie hoffen aber, eine neue Klasse sogenannter adaptiver Materialien gefunden zu haben – Stoffe, die sich automatisch auf veränderte Ansprüche einstellen. Es sei beispielsweise denkbar, dass der neue Verbundwerkstoff einmal als eine Art künstlicher Knorpel dienen könnte: An den Stellen, an denen er besonders belastet wird, würde er sich selbst verstärken, während er in Bereichen mit weniger starker Belastung flexibel bleibt, berichten die Forscher.
Wenn Gummibänder immer wieder in die Länge gezogen oder Büroklammern wiederholt verbogen werden, reißen oder brechen sie irgendwann aufgrund der ständigen Belastung, weil das Material ermüdet. Belastungstests zur Materialermüdung zählen daher zum Standard in den Material- und Ingenieurwissenschaften. Dabei wird ein Testmaterial beispielsweise über Tage und Wochen ständig oder wiederholt mit Druck oder Zug belastet. Genau solch einen Test nahm der Materialforscher Carey bei einem speziellen Verbundwerkstoff vor. In ein Polydimethylsiloxan oder PDMS genanntes Silikon arbeitete er Kohlenstoff-Nanoröhrchen ein. Diese Nanoröhrchen bestanden aus ineinander geschobenen Kohlenstoff-Schichten, so dass jedes Röhrchen mehrere Wände hatte. Sämtliche Nanoröhrchen waren in eine Richtung ausgerichtet.
Für einen dynamischen Belastungstest spannte Carey dann eine nur wenige Millimeter große Probe des Verbundwerkstoffs in eine kleine Apparatur ein. Über eine Woche komprimierte er den Materialquader rund 3,5 Millionen Mal. Ursprünglich wollte er die Belastungsgrenzen des Stoffs herausfinden, kurz: ihn kaputtmachen. Er musste aber feststellen, dass der Verbundwerkstoff an Stabilität zulegte. Nach einem Tag stieg die Steifigkeit um acht Prozent an, nach einer Woche lag sie zwölf Prozent über dem Ausgangswert.
Über die Prozesse, die dabei eine Rolle spielen, können die Forscher nur spekulieren. Fest steht bislang lediglich, dass der Effekt nicht bei statischen Belastungen auftritt, bei denen ein gleichbleibender Druck oder Zug ausgeübt wird, sondern nur bei dynamischen, bei denen das Material immer wieder be- und entlastet wird. Zudem scheint es keinen chemischen Umbau im Inneren zu geben, es bilden sich also offenbar keine Bindungen neu. Die Forscher sehen in der Verbundwerkstoffprobe ein Beispiel für sogenannte adaptive Materialien, die auf ihre Umgebung auf berechenbare Weise reagieren. Beispiele aus der Natur sind etwa Muskeln und Knochen. Die Muskelkraft etwa verstärkt sich durch Training, und auch Knochen reagieren auf wiederkehrende Belastung mit internem Materialumbau: Von Tennisspielern wissen Forscher beispielsweise, dass die Knochen des Schlagarms dichter und stabiler sind.
Brent Carey (Rice-Universität, Houston) et al: ACS Nano, doi: 10.1021/nn103104g dapd/wissenschaft.de – Martin Schäfer