Erich ist ein Onkel meiner Frau. Er verdient seinen Lebensunterhalt mit dem Restaurieren wertvoller alter Bücher. Er ist hochgebildet, denn er liest sie auch. Allerdings nimmt er es mit der Wahrheit nicht so genau und betrachtet sie nur als Rohmaterial für seine Geschichten, die er in geselligen Runden zum Besten gibt. Beim letzten Geburtstag meiner Frau dozierte er beim Kaffee über Palimpseste: „Pergament war im Mittelalter sehr wertvoll und wurde darum oft mehrfach benutzt. Wenn ein Buch nicht mehr gebraucht wurde, nahm man es auseinander, kratzte die Tinte von den Seiten und beschrieb sie neu. Ein solches abgekratztes und neu beschriebenes Pergament nennt man Palimpsest. Mit den technischen Mitteln, die uns heute zur Verfügung stehen, kann man den abgekratzten Text wieder sichtbar machen, und manchmal ist er viel interessanter als der spätere.“
Dann fragte er, ob wir Wyrtgeorn, Hengest und Horsa kennen würden. Alle verneinten. „Nun denn“, sagte er. „Wyrtgeorn war ein romano-britischer Tyrann des 5. Jahrhunderts, der nach dem Abzug der Römer im Süden Britanniens herrschte. Als die Völker aus dem Norden der Insel in den Süden einfielen, heuerte er sächsische Söldner an, um bei der Abwehr der Pikten zu helfen. Unter der Führung der beiden Brüder Hengest und Horsa kamen Jüten, Angeln und Sachsen auf die Insel und drängen die Pikten zurück. Sie erhielten dafür von Wyrtgeorn ein Stück Land in Kent. Die Söldner holten aber immer mehr Stammesgenossen nach Britannien, erhoben sich schließlich gegen Wyrtgeorn und verheerten sein Land.“ Onkel Erich unterbrach sich, um ein großes Stück Schwarzwälder Kirschtorte zu verschlingen. Dann fuhr er fort: „Die sächsischen Wörter ,Hengest‘ und ,Horsa‘ haben sich im Lauf der Jahrhunderte zu ,Hengst‘ und ,Ross‘ abgeschliffen. Und in England ist aus ,Horsa‘ das Wort ,horse‘ geworden. Obwohl kaum noch jemand die beiden Brüder Hengest und Horsa kennt, so sind sie nicht vollständig in Vergessenheit geraten. Noch heute sieht man nämlich an vielen niederdeutschen Hallenhäusern zwei Pferdeköpfe als Giebelschmuck.“ Erich trank seine Tasse aus und schenkte sich nach. „In den letzten Wochen habe ich in einer Klosterbibliothek in Kent einen Kodex restauriert. Keines der Blätter war schon vorher einmal beschrieben gewesen, bis auf das letzte Blatt. Dort hatte ‧ursprünglich ein kleines Schachbrett mit nur 5×5 Feldern gestanden. In ein Feld war eine Krone gezeichnet worden, in ein zweites ein weißer und in ein drittes ein schwarzer Pferdekopf. Darunter standen zwei Zeilen. Die erste Zeile war bis auf das Wort ,Wyrt‧georn‘ unleserlich. In der zweiten Zeile stand auf ‧Latein ,Hengest und Horsa springen im Dreieck‘“.
„Was soll das bedeuten?“, fragte ich verständnislos. „Das ist doch völlig klar!“, erwiderte Erich. „Die drei Figuren bilden die Ecken eines Dreiecks.“ „Das scheint mir doch weit hergeholt zu sein“, wandte mein Schwager Jakob ein. „Es gibt Tausende von Stellungen der Figuren, bei denen diese ein Dreieck bilden.“ „Ach!“, sagte Erich überrascht. „Das hätte ich nicht vermutet. Wie viele sind es denn?“ „Tja“, erwiderte Jakob und kratzte sich am Kopf. „Das müsste ich erst ausrechnen.“
Wissen Sie, wie viele Stellungen es für Hengest, Horsa und Wyrtgeorn auf dem Brett gibt, bei denen sie die Ecken eines Dreiecks bilden? Die Figuren stehen dabei immer genau auf den Mittelpunkten der Felder. Dreiecke, die zu Strecken entartet sind, zählen nicht mit. Stehen also beispielweise alle drei Figuren in der ersten Spalte des Schachbretts, bilden sie kein Dreieck.
COGITO − RÄTSELN SIE MIT!
Teilnehmen kann jeder, außer den Mitarbeitern des Verlags und deren Angehörigen. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.
Schicken Sie Ihre Lösung bitte bis zum 30. Juli 2023:
Die Lösungen und die Namen der Gewinner werden demnächst hier und im Oktober-Heft 2023 veröffentlicht.
… UND DAS GIBT ES ZU GEWINNEN
Unter den Einsendern der richtigen Lösung verlosen wir fünf Exemplare des Buchs „Kompendium der Chronologie“ von Hans-Ulrich Keller. „Niemand kann aus dem Fluss der Zeit aussteigen oder den Zeitablauf anhalten“, schreibt der Gründungsdirektor des Stuttgarter Planetariums und Astronomie-Professor an der Universität Stuttgart. Er gibt einen profunden und gut verständlichen Überblick über die vielen Facetten der Zeit in der Physik, Biologie, Psychologie und Kulturgeschichte. Ausführlich erklärt er auch die zahlreichen Arten der Zeitbestimmung von der Sonnen- bis zur Atomuhr sowie die unterschiedlichen Zeitskalen und Kalendersysteme. „Ich habe keine Zeit“ hört man oft. „Doch jeder hat täglich 24 Stunden zur Verfügung“, kommentiert Keller lakonisch. Mehr Informationen: www.kosmos.de