Als es zum ersten Mal gelang, das gesamte Genom eines Lebewesens zu entschlüsseln, war das zweifellos ein medizinischer Durchbruch, der unser Verständnis von Gesundheit und Krankheit, ja vom ganzen Wesen des Lebens grundsätzlich veränderte. Doch die Kartierung unseres Proteoms, der Gesamtheit unserer Proteine, ist ein Projekt von nicht minder großer Bedeutung. Denn die DNA ist im Grunde ein Informationsarchiv, eine Blaupause für mehr als 10 000 verschiedene Proteine. Sie sind wichtige Akteure in unserem Organismus, verantwortlich für Lebenserhaltung wie für Krankheit und damit begehrte Angriffspunkte für diverse Therapien. Wer etwa Struktur und Funktionsweise der Proteine kennt, die eine Zelle zur Krebszelle machen, kann diese gezielt angreifen und Tumore weitaus effektiver bekämpfen als eine Chemotherapie. Mehr noch, er muss nicht warten, bis eine Krankheit ausbricht, sondern kann schon den Prozess ihrer Entstehung beobachten und womöglich beeinflussen.
Wie weit wir in diese „neue Ära der Medizin“ schon vorgedrungen sind, zeigt eindrucksvoll diese Dokumentation, die Ärzte, Patienten und Wissenschaftler rund um die Welt besucht. Während sie auf der Bildebene leider oft bei Belegbildern von Städten, Instituten oder Laboren stehen bleibt, macht die inhaltliche Ebene diese Schwäche mit einer Fülle von interessanten Gesprächspartnern leicht wett. Sie beleuchten das Thema aus unterschiedlichen Perspektiven und in verschiedenen Projekten und erzeugen so im Kopf des Zuschauers auch mit wenigen visuellen Hilfsmitteln ein umfassendes Bild dieses Forschungszweiges.
Schnell wird deutlich, dass die Geschichte der Proteomik auch die Geschichte einer neuen Form von Wissenschaft ist. Allein die enorme Masse von Proteinen und möglichen Variationen nicht nur von Mensch zu Mensch, sondern sogar mit Blick auf einzelne Körperzellen erfordert den Einsatz neuer Methoden und Kooperationen: Big Data hält Einzug in die Medizin. Ohne die Bioinformatik, ohne den Einsatz von Hochleistungsrechnern und Algorithmen wären die immensen Datenmengen, die die molekulare Analyse von Proteinnetzwerken liefert, nicht zu verarbeiten. Schon gibt es die ersten digitalen Modelle individueller Tumore, an denen der Computer den Erfolg diverser Therapien durchspielen und die beste herausfinden kann. Aber nicht nur Krebs, auch Leiden wie Alzheimer oder gar psychische Krankheiten könnten ihren Ursprung (auch) in einer gestörten Proteinsynthese haben.
Die fundiert recherchierte und konzipierte Dokumentation verschafft einen Überblick über den aktuellen Stand der Erforschung des Proteom-Codes, thematisiert Potenziale und Probleme und stellt am Ende auch noch die Frage, der sich jede revolutionäre Forschung einmal stellen muss: Was machen diese Erkenntnisse mit unserer Gesellschaft? Und wollen wir alles, was wir können? Die Antwort darauf ist die einzige, die uns die Autoren in diesem Film schuldig bleiben.
Olaf S. Müller und Michael Trabitzsch
Der Proteom-Code
Dokumentarfilm. arte Edition/Absolut Medien 2017
52 Minuten, 14,90 €