Schon die ersten Filmminuten versetzen in Trance. Langsam, mit langen, geduldigen Kameraeinstellungen entführt Regisseurin Mirjam Leuze an die Westküste Kanadas, ein Buckelwal gleitet ruhig und sekundenlang im Wasser, stößt Luft aus, taucht ab und wir mit ihm. Wohlige Stille breitet sich aus, die aber nicht ganz stumm, sondern vom leisen Plätschern des Wassers begleitet ist. Schnitt.
Die Kamera ist an Land. Blick in die Baumkronen, die sich im Wind wiegen. Jäh wird die Stille durchbrochen von schneidenden Quietschgeräuschen: Walgesang, wahrhaftig an Land zu hören, eine Kameraeinstellung zeigt einen alten, weißen Lautsprecher mit in die Jahre gekommenen Stromkabeln.
Hier ist die Forschungsstation des Walforschers Hermann Meuter, der schnell seine Kamera zückt, wenn der Lautsprecher die Unterwassergeräusche in den Wald überträgt. Lange hat er hier zusammen mit seiner Lebensgefährtin Janie geforscht. Doch die Einsamkeit habe ihrer Beziehung nicht gut getan, sagt er. Janie hat nun eine eigene Forschungsstation, etwas entfernt. Die große Leidenschaft ist geblieben: Beide haben ihr Leben der Erforschung der Buckelwale und Orcas verschrieben. Hermann brach dafür sein Sportstudium in Köln ab. „Das beeindruckte mich am meisten: die Kraft, die diese Tiere ausstrahlen, wenn sie an die Oberfläche kommen. In diesem Moment wusste ich, dass ich ihnen mein Leben widmen würde“, sagt er. Hermann und Janie dokumentieren Tag für Tag ihr Verhalten, ihre Standorte, blättern in einem umfangreichen Fotokatalog, sobald ein Tier an der Wasseroberfläche auftaucht, um es anhand der Rücken- oder Schwanzflosse, der Finne oder Fluke zu identifizieren. Regisseurin Leuze nimmt sich Zeit, die Walforscher bei ihrer Arbeit zu begleiten. Das macht den Film zur Reportage. Sehr meditativ erzählt und mit beeindruckenden Bildern dieser unberührten Fjordlandschaft angereichert.
Doch das ist nur ein Aspekt. Durch seine erstaunliche Vielschichtigkeit wird der Film zum ethnologischen Kunstwerk. Denn die Geschichte um Hermann und Janie hat mehr zu bieten als Forschungsergebnisse. Mit ihren Daten wurden sie zu wichtigen Partnern der Gitga‘at First Nation, der Menschen, die zuerst hier lebten. 70 Meilen von den Forschungsstationen entfernt liegt die kleine Küstenstadt Kitimat. Hier wird eine gigantische Exportanlage für Flüssiggas (LNG) geplant. Auf Supertankern soll das Gas nach Asien transportiert werden. Was die Tankerroute für die Wale und die Lebensweise der First Nation bedeuten wird, ist nicht absehbar.
In diesem Spannungsfeld erweitert Ethnologin Mirjam Leuze ihr Drehbuch um eine kulturelle und soziale Dimension. Sie verfällt dabei glücklicherweise nicht in den reißerischen Michael-Moore-Stil, sondern berührt auf behutsam respektvolle Weise viele Fragen: Sind Wale fühlende Wesen? Haben Menschen das Recht, das Meer ausschließlich nach ihren Bedürfnissen zu formen? Ein stiller Film von ohrenbetäubender Kraft.
Mirjam Leuze (Regie)
The Whale and the Raven
Mindjazz Pictures. 101 Minuten. Ab 5. September im Kino