Beim Nachdenken über das Menschsein beginnt der 89-jährige Nobelpreisträger in seinem eigenen Gehirn. Dort entsteht das Bewusstsein, und durch das Zusammenspiel von Genen und Umwelt entwickelt sich die Persönlichkeit. Obwohl viele Fragen rund um das Gehirn nach wie vor unbeantwortet sind, resümiert Kandel, dass wir durch neue naturwissenschaftliche Techniken sehr viel über Wahrnehmung und Gedächtnis erfahren haben. Weil das menschliche Gehirn so komplex aufgebaut ist, kann manches falsch laufen – doch aus den Fehlern lässt sich jede Menge lernen.
Anschaulich erklärt Kandel häufige Gehirnerkrankungen wie die Alzheimer-Krankheit und seltene Störungen des Gehirns. Wenn etwa das Broca-Zentrum für die Sprachentwicklung und das Wernicke-Zentrum für das Sprachverständnis getrennt werden, können die Betroffenen Sprache verstehen und ausdrücken; aber beide Funktionen arbeiten unabhängig voneinander. Das sei ähnlich wie bei einer Pressekonferenz des US-Präsidenten, meint Kandel: „Information kommt herein, Information geht hinaus, aber zwischen beiden besteht keine logische Verbindung.“
Der renommierte Neurowissenschaftler drängt sich nicht in den Vordergrund, sondern lässt seitenlang andere Experten, erfahrene Ärzte und Patienten zu Wort kommen. Beeindruckend ist das Beispiel von Kay Redfield Jamison: Die Psychologin und Psychiaterin kämpft mit einer bipolaren Störung. Sehr bildhaft beschreibt sie, wie Reizbarkeit, Angst und Wut in ihr aufsteigen. Der Wahnsinn schafft sich seine eigene Realität. Und das lässt sich auf ganz „normale“ Menschen übertragen: Prozesse, wie die Wissenschaftlerin sie beschreibt, treten in milderer Form und zeitlich begrenzt bei vielen Menschen auf.
Kandel gelingt es, die Abläufe im Gehirn verständlich zu schildern und menschliches Verhalten überzeugend zu erklären. Das macht er mit viel Gespür für Menschlichkeit. So entsteht aus naturwissenschaftlichen Informationen ein zutiefst humanistisches Menschenbild, dargestellt von einem Meister seines Fachs.
Eric Kandel
Was ist der Mensch?
Siedler, 368 S., € 30,–, ISBN 978–3–827–50114–1
E-Book für € 24,99, ISBN 978–3–641–22859–0