Natürlich verabscheuen wir, als aufgeklärte Zeitgenossen, Gewalt in jeder Form! Schließlich gilt diese Haltung als integraler Bestandteil der Menschlichkeit. Wie falsch diese Einschätzung ist, kann Robert Sapolsky belegen. Der Neurowissenschaftler und Primatologe aus Stanford untersucht seit Jahrzehnten das menschliche Verhalten. Und er hat festgestellt: Wir hassen nur den falschen Anlass und “die falsche Art”. Grundsätzlich aber gehört die Ausübung von Gewalt zum Grundrepertoire unseres Verhaltens.
Um das zu belegen, beschreibt Sapolsky eine seit seiner Jugend wiederkehrende Fantasie: Er möchte einem bestimmten Menschen die Augen aus dem Kopf zerren und die Zunge herausreißen. Er möchte ihm etwas injizieren, was Krebsgeschwüre verursacht. Der Mensch, an den er dabei denkt, ist Adolf Hitler.
Sapolsky sieht keinen Widerspruch darin, grundsätzlich gegen die Todesstrafe zu sein und trotzdem Menschen den Tod zu wünschen. Genauso befürwortet er strenge Waffenkontrollen, liebt aber – wie viele Vertreter der Kulturspezies Mensch – Gewaltorgien im Trashkino. Warum es zu diesen vermeintlichen Gegensätzen kommt? Weil das “Ich” nicht alleine ist. Wo immer Menschen miteinander zu tun bekommen, definieren sie ein “Wir” – und grenzen es ab gegenüber einem “Sie”. Begegnen sich “Wir” und “Sie” im Alltag, beginnt es unter der Schädeldecke zu rumoren. Das Gehirn denkt sich durch die Möglichkeiten, wie es reagieren könnte: mit Stammesdenken und Krieg oder mit Freundschaft und Frieden.
Je nachdem, wie groß bei der Entscheidung der Anteil von Orbitofrontalem Cortex oder Amygdala ausfällt, gebärden wir uns mal einfühlsam, mal aggressiv. Schritt für Schritt erklärt Sapolsky, welche hormonellen Regelkreise in uns wirken – was vorgeburtliche Prägung mit uns macht, welche evolutionären Hintergründe sich in der modernen Gegenwart als aggressive Fratze zeigen.
Zum Glück ist Sapolsky ein begnadeter Erzähler. Bei aller Gründlichkeit vergisst er nie, die Tiefe der Erklärungen aufzulockern – mit kulturgeschichtlichen Schmankerln, überraschenden Statistiken und Anekdoten aus seinem eigenen Primatenleben.
Robert Sapolsky
Gewalt und Mitgefühl
Hanser, München 2017
1024 S.,€ 38,
ISBN 978–3–446–25672–9