Aus der Sicht einer Ratte ist die Menschheitsgeschichte eine Serie von Fehlschlägen. Die Ratten dagegen sind wahre Erfolgstypen. Ein originelles und eindrucksvolles Buch.
Mögen Sie mit sarkastischem Humor servierte Bosheiten? Hier eine Kostprobe: „Der Mensch ist ein Zufallsprodukt der Evolution bei der Erschaffung der Ratte.“ Da japst man schon mal kurz nach Luft. Aber dann erzählt Autorin Kerstin Decker von den ratten- oder spitzhörnchenartigen Ur-Ur-Urahnen der Menschheit, etwa vom Purgatorius, der vor rund 60 Millionen Jahren als Baumbewohner lebte und als frühester Vorläufer der Primaten gilt. Doch halt: Eigentlich erzählt ja jemand anderes – nämlich ein Rattus rattus, eine europäische Hausratte. Die tut sich natürlich leichter, unbequeme Wahrheiten über die Menschheitsgeschichte loszuwerden, als unsereiner.
Diesen Trick hat Kerstin Decker, Verfasserin mehrerer Biografien, bereits in ihrem 2012 erschienenen Buch „Richard Wagner. Mit den Augen seiner Hunde betrachtet“ ausprobiert. Jetzt hat sie erneut die tierische Perspektive gewählt, um eine Biografie zu schreiben – die des Homo sapiens. Der kommt in seiner heutigen Verfassung nicht gut weg: „Ihr wart zur Steinzeit viel klüger als heute“, versichert die erzählende Ratte. „Ihr konntet schärfer denken, besser riechen, besser hören. Eure Gehirne waren größer. … Ihr habt eure Intelligenz verlagert auf die Werkzeuge, die ihr geschaffen habt, auf die Gesellschaft. Aus eigener Kraft wärt ihr kaum überlebensfähig. Würdet ihr einem Steinzeitmenschen begegnen, er würde euch auslachen.“
Ratten hingegen entpuppen sich bei näherem Hinsehen als wahre Erfolgstypen. Jahrtausendelang haben sie neben und von den Menschen gelebt und wurden stets von ihnen verfolgt. Aber sie haben alle Ausrottungsversuche überstanden. Und ihr biologisches und soziales Repertoire ist beeindruckend. Über die so übel beleumundeten Nager erfährt der Leser eine Menge aufregende Details – bis hin zur Tatsache, dass Ratten nachweislich die Musik Mozarts lieben.
Ist dies also ein Sachbuch? Nur zum Teil. Denn die Autorin kocht offensichtlich vor Wut über die krasse Schieflage zwischen Arm und Reich, hier und anderswo. So nutzt sie die rättische Erzählperspektive zu guter Letzt für eine Philippika gegen gesellschaftliche Verhältnisse. Und der Plauderton wandelt sich zur bitteren Anklage. Thorwald Ewe
Kerstin Decker
DIE GESCHICHTE DES MENSCHEN VON EINER RATTE ERZÄHLT
Berlin Verlag, 431 S., € 24,–
ISBN 978–3–8270–1414–6