Was das Menschsein ausmacht, hat bislang vor allem Philosophen beschäftigt. Heute erscheint diese Frage relevanter denn je, denn Software führt Telefonate, macht Musikvorschläge und sucht Partner. Für die alten Griechen waren es Vernunft und Sprache, was den Menschen auszeichnet. Doch was geschieht, wenn Künstliche Intelligenz (KI) all das beherrscht und wenn aktuelle KI-Forschungsprojekte nun auch zum großen Sprung auf die Kreativität ansetzen? Wenn Software zu schreiben, zu komponieren und zu malen beginnt – gerät dann unser Selbstverständnis ins Wanken?
Marcus du Sautoy ist hochdekorierter Mathematik-Professor an der Universität Oxford. Und er macht sich Sorgen: Schließlich beherrscht die KI längst nicht nur Verkaufsportale und Dating-Apps, sondern komponiert mit Programmen wie „DeepBach“ Choräle, die täuschend echt nach Barock klingen, malt mit „DeepDreams“ Bilder, erzählt dank des Algorithmus „Scheherazade-IF“ Geschichten und erzeugt mit der Software „Coq“ sogar neue mathematische Beweise. Aus der Sorge um die kreativen Berufe heraus hat du Sautoy ein großartiges Buch geschaffen, das die Grundlagen der Algorithmen erklärt, die unseren Alltag bestimmen, und das die wichtigsten Fakten und Argumente der Debatte um maschinelles Lernen und künstliche Kreativität liefert.
Der erste Teil ist ein gelungener Blick eines Insiders in die Welt der Algorithmen: Du Sautoy beschreibt die Geschichte und Funktionsweise der Rechenregeln und nimmt seine Leser leicht und verständlich auch beim nächsten Schritt mit: Wie gelingt es Software, sich durch das Training an großen Datenbergen immer weiter selbst zu verbessern?
Den zweiten und ausführlichsten Teil seines Buchs widmet du Sautoy der Frage, was in den kreativen Bereichen Musik, Kunst, Sprache und Mathematik schon jetzt programmiert ist und was Software dort noch leisten wird. Das ist ein grandioser Ausflug in die Welt von morgen. Dazu reist der Autor in die Labors der Informatiker bei Google, Microsoft und an viele Universitäten. Dank seiner klaren, uneitlen Sprache lässt er den Leser staunen, vieles begreifen – und manchmal auch erschaudern.
Die zentrale Frage, ob die KI als eine Art mathematisches Frankenstein-Monster sich eines Tages gegen seine Schöpfer wenden wird, lässt du Sautoy ganz bewusst offen. Wenn er Recht behält, wird Empathie wohl der nächste Schritt der Maschinen sein. Und unser Schicksal wird womöglich davon abhängen, welches Verständnis wir einer bewussten Maschine entgegenbringen. Tobias Beck
Marcus du Sautoy
DER CREATIVITY CODE
C.H. Beck, 319 S., € 26,95, ISBN 978–3–406–76579–7