Mit „H wie Habicht“, der Geschichte ihrer schwierigen Beziehung zu einem Greifvogel, hatte Helen Macdonald die Leser begeistert. In ihrem neuen Buch vermittelt sie sehr emotional, was der Mensch durch die Rückbesinnung auf die Natur gewinnen kann.
Manchmal mitfühlend sensibel, dann schmerzhaft brutal – und oft einfach nur schön. So wie Helen Macdonald bringt uns niemand die Natur nahe. „Beobachterin aus Berufung“, so nennt sich die Wissenschaftshistorikerin selbst. Die mit vielen Literaturpreisen ausgezeichnete Britin schaut aber nicht nur genau hin, sie ordnet auch ein. Wer ihren Gedanken folgt, muss fast zwangsläufig seine Stellung als Mensch im Beziehungsgeflecht des Lebens hinterfragen.
Macdonald ist fasziniert von allem, was fliegt. Hier findet sie ihre Bilder und Assoziationen. Dabei reicht das Spektrum ihrer Schilderungen vom Erdboden bis in den Kosmos. Der Hochzeitsflug der Schwarzen Wegameise wird bei ihr zum Drama, wenn Möwen und Schwalben in die schwärmende Insektenwolke hineinstoßen wie hungrige Haie in einen Heringsschwarm. Weiter oben in der Luft folgt sie den Abendflügen der Mauersegler und sinniert unter den schrillen Schreien über die Öffnung von Denkhorizonten. Einige Seiten später geht es noch höher hinaus: Die Autorin begleitet eine Astrobiologin in der chilenischen Wüste und lässt die Leser teilhaben am harten Training für eine Expedition auf dem Mars – und an ihren Gedanken über die Stellung des Menschen im Universum.
Von ganz eigener Art ist die wiederholte Begegnung der Autorin mit einer Krähe. Wie ein schwarzer Wegposten sitzt die Krähe immer an derselben Stelle und vermittelt Helen Macdonald das Gefühl, von ihr ebenso angeschaut und in der Notwendigkeit ihrer Existenz eingeschätzt zu werden, wie sie den Vogel betrachtet: „Unsere Leben überschnitten sich.“
Die Vorstellung dieser 41 eindrucksvollen Essays wäre unvollständig, würde man die Leistung der Übersetzerin nicht erwähnen. Feinfühlig und bildschöpferisch hat Ulrike Kretschmer die lyrischen Gedankenmalereien Macdonalds ins Deutsche übertragen. Eine Wendung wie „das wundertrommelartige Flackern der Kiefern hinterm Zaun“ muss einem erst einmal einfallen. Jürgen Nakott
Helen Macdonald
ABENDFLÜGE
Hanser, 352 S., € 24,–
ISBN 978–3–446–26930–9