Allen Frances, Professor für Psychiatrie und Verhaltensforschung, war selbst Vorsitzender jener Kommission, deren Treiben er in seinem Buch auseinandernimmt. Zwei Ausgaben des „Diagnostischen und statistischen Handbuchs für psychische Erkrankungen” (DSM) verantwortete er mit und gehörte so zu den Experten, die psychische Krankheiten katalogisieren. Er half mit, Störungen in den Rang offizieller Leiden zu erheben. Doch die Arbeit hat Frances geläutert – heute beklagt er den Irrsinn, der die Grenze zwischen Normalität und Störung verschwimmen lässt. Die Schwelle, an der Verhaltensauffälligkeiten als Krankheit diagnostiziert werden, ist auf ein kurioses Niveau gesunken: Der Stempel ADHS wird Jugendlichen bei den ersten Anzeichen von Unruhe verpasst. Autismus ist Mode geworden, „weil die Diagnose die Eintrittskarte zu mehr schulischer Förderung und intensiverer ärztlicher Betreuung ist”, vermutet Frances. Und aus Schüchternheit ist „soziale Phobie” geworden, die in den USA als dritthäufigste psychische Störung gilt. Eine solche, ist der Autor sicher, wird bald auch der Wutanfall sein. Und die Völlerei. Und die Leidenschaft.
Urs Willmann