Die Werte einer Gesellschaft hängen davon ab, wie viel Energie sie verbraucht. So lautet, verkürzt, die These von Ian Morris. Das wirkt auf den ersten Blick befremdlich. Denn von einem Zusammenhang zwischen Moral und Energienutzung spricht man sonst nur bei Ressourcenverschwendung und Umweltsünden.
Der Archäologe von der Stanford University vergleicht drei Stufen der Zivilisation: Wildbeuter, Bauern und Industriegesellschaften. Wildbeuter verbrauchen wenig Energie. Sie ziehen umher und kennen kaum Besitz. Deshalb lehnen sie Macht über andere meist ab, argumentiert Morris. Allerdings tolerieren sie Gewalt, um Konflikte zu lösen. Bauern hingegen sind sesshaft und holen viel Energie aus dem Boden. Dazu ist Arbeitsteilung nötig. Die wiederum wird durch Koordination und Kontrolle garantiert. Eine gesellschaftliche Hierarchie gewährleistet beides. Gewalt hingegen würde dieses System stören. Die Industriegesellschaft nutzt viel fossiler Energie. Zwar duldet dieses System keine Gewalt, wohl aber die ungleiche Verteilung von Reichtum. In allen drei Fällen, so der Autor, sei der Zusammenhang zwischen Energieverbrauch, Energiegewinnung und Wertesystem erkennbar.
Morris hält seine These für stark genug, um vier hochkarätige Kritiker dagegen antreten zu lassen: die Schriftstellerin Margaret Atwood, die Philosophin Christine M. Korsgaard, den Altphilologen Richard Seaford und den Sinologen Jonathan D. Spence. Die Diskussion ist ein mutiger Bestandteil dieses Buchs. Der Autor kassiert zwar Treffer − aber der Leser gewinnt. Dirk Husemann
Ian Morris
BEUTE, ERNTE, Öl
DVA, 425 S., € 26,–
ISBN 978–3–421–04804–2