Eine Mathematikhistorikerin und ein Wissenschaftsjournalist wollen 20.000 Jahre Mathematikgeschichte vom Kopf auf die Füße stellen.
Wenn wir eine Weltkarte betrachten, scheint Europa stets in der Mitte zu liegen, als seien wir der Nabel der Welt. So wie Karten ein Weltbild prägen, so prägen auch Namen wie Pythagoras, Newton und Gauß unsere Sicht auf die Mathematik. Sie erscheint uns als eine Wissenschaft, die abstrakte Erkenntnisse streng logisch aufeinander aufbaut – und das Fundament steht im alten Griechenland.
Alles falsch, sagen Kate Kitagawa und Timothy Revell. Die Geschichte der Mathematik wird so verzerrt erzählt wie die Mercator-Projektion die Erdoberfläche darstellt. Sie muss neu geschrieben werden: „älter, östlicher und weiblicher“.
Das geht nicht ohne die bekannten Koryphäen. Doch sie sind nur ein Teil des Gesamtbilds. Kitagawa und Revell lenken die Aufmerksamkeit darauf, dass der nach Pythagoras benannte Satz schon den Babyloniern bekannt war (älter!) und im alten China Gougu-Theorem hieß (östlicher!). Dass schon im alten Griechenland Hypatia und andere Frauen Wissenschaft betrieben (weiblicher!). Dass Mathematik überall auf der Welt entwickelt wurde. Ihren Verlauf und wie wir sie heute wahrnehmen, bestimmten immer auch Persönlichkeiten, Weltanschauungen, gesellschaftliche und politische Verhältnisse.
Sophie Kowalewski, die im 19. Jahrhundert gegen viele Widerstände Mathematikprofessorin in Stockholm wurde, sagte einmal, Mathematiker müssten, wie Dichter, „tiefer schauen als andere schauen“. Ob man den Himmel betrachtet oder Erbstreitigkeiten zu lösen hat, Kugeln stapelt, perspektivisch zeichnet oder Code entschlüsselt: All das führt, wenn man genau hinsieht, zu mathematischen Fragen und Herausforderungen. Wer glaubt, Mathematikgeschichte könne kein Sammelsurium mit vielen persönlichen Schicksalen und wenigen Formeln sein, irrt sich: Doch, sie kann.
20.000 Jahre auf 400 Seiten – dieser Anspruch kann nicht vollständig eingelöst werden. Vieles im Buch ist auch nicht neu. Doch es fühlt sich so an, als hielte man den Globus in der Hand statt der verzerrenden Karte. Man kann von vielen Seiten schauen und erhält eine umfassende Perspektive. Barbara Messing
Kate Kitagawa, Timothy Revell
Die großen Unbekannten der Mathematik
Goldmann, 400 S., € 24,–
ISBN 978-3-442-31684-7