Wer die Erbanlagen der Menschheit studiert und nach Unterschieden sucht, muss sich längst nicht mehr vorwerfen lassen, dem Rassismus Vorschub zu leisten. Vielmehr zeigen neue Forschungsergebnisse, wie wichtig Migration und Diversität für die Evolution der Menschen waren und sind.
Als einer der wichtigsten Köpfe seiner Fachrichtung liefert der spanisch-französische Genetiker Lluis Quintana-Murci einen profunden Überblick über die Erkenntnisse seiner Wissenschaft. So beweist er: Die Populationsgenetik von heute hat nichts mehr mit der Völker- oder Rassenkunde früherer Zeiten zu tun. In seinem Buch zeigt er auf, wie Migration und ständige Vermischung der Menschheit stets halfen, mit den Herausforderungen ihrer Umwelt fertig zu werden. Der kleine Anteil von Neandertaler-DNA im Erbgut von Homo Sapiens ist dafür nur ein Beispiel.
Immer wieder mussten unsere Vorfahren sich anpassen. Aus Jägern und Sammlern wurden schließlich Landwirte und Stadtbewohner. Dabei änderte sich nicht nur die Kultur der Menschen, sondern auch ihre Biologie. Je mehr Vielfalt eine Population zu bieten hatte, umso besser konnte sie auf Veränderungen reagieren. Die Spuren dieser Anpassungen und der weltweiten Wanderungen über den Globus finden Genforscher im Erbmaterial aus prähistorischen Funden, aber auch in den Genen heutiger Menschen.
Die wichtigsten Herausforderungen für die Menschheit waren schon vor Jahrtausenden Klimawandel und Infektionskrankheiten. So hat die Malaria vor allem die Gene der Tropenbewohner geprägt. Es entstanden Resistenzen gegen die tödlichen Erreger, aber mit ihnen auch neue Gesundheitsrisiken und Krankheiten wie die vor allem in Afrika verbreitete Sichelzellanämie.
Um die neuesten Forschungsergebnisse zu erklären, taucht Quintana-Murci tief ein in molekulargenetische Details. Leider kommt er dabei nicht ohne Fachwörter aus. Ein übersichtliches Glossar hätte den Einstieg in die komplexe Welt der Gene erleichtert. Dennoch gelingt es dem Autor eindrucksvoll, verbreitete Vorurteile zu widerlegen, nicht durch politische Korrektheit oder liberale Ideologie, sondern mit wissenschaftlichen Fakten. Das Buch beweist: Diversität ist kein Modewort, sondern ein Grundprinzip der biologischen Evolution. Michael Lange
Lluis Quintana-Murci
Die große Odyssee
Wie sich die Menschheit über die Erde verbreitet hat
C.H. Beck, 288 S., € 28,–
ISBN 978-3-406-81429-7