natur: Sie haben ein Jahr lang an einem Tag pro Woche ein kleines Stück Waldboden in einem Bergwald in Tennessee besucht und beobachtet. Welche Entdeckung hat sie in dieser Zeit am meisten verblüfft?
Haskell: Ich würde sagen, die Pilze. Im Spätsommer, wenn die Laubstreu vom Regen durchnässt ist, ist der Waldboden mit den unterschiedlichsten Fruchtkörpern mehrzelliger Pilze bedeckt. Sie sind nur wenige Millimeter groß. Man fühlt sich wie auf einem anderen Planeten. Seine Oberfläche ist über und über mit bizarren kleinen Strukturen überzogen. Und es schwirren Pilzmücken wie winzige Raumschiffe umher. Das war mir so noch nie begegnet, da ich zuvor eher selten in Bauchlage und mit Lupe bewaffnet den Waldboden betrachtet hatte. Ich bin ein großer Verfechter der Legalisierung von Lupen (lacht). Sie versetzen uns in einen erweiterten Bewusstseinszustand. Sie befördern nicht den Drogenhandel. Und durch ihren Gebrauch begeht man keine Straftat oder Ordnungswidrigkeit.
Warum ist es wichtig, unsere Umwelt derart detailliert zu studieren?
Man kann sicherlich ein glückliches Leben führen, ohne jemals etwas von Shakespeare gehört zu haben. Aber dieses Leben ist teilweise etwas eingeschränkt. Es gibt doch so viel Schönes in der Literatur – und eben auch in der Natur. Es bereichert das Leben, wenn man weiß, welcher Vogel da draußen sein Lied zwitschert. Vieles mag uns nutzlos erscheinen. Und das ist auch in Ordnung. Nicht jede Art, die ausstirbt, gleicht einer fehlenden Niete, die das Flugzeug zum Abstürzen bringt. In den USA wurde die Wandertaube ausgerottet. Das hatte keinerlei wirtschaftliche Folgen. Doch mit der Taube ist ein Teil dieser bemerkenswerten Musik, komponiert aus Atomen und DNS, verschwunden.
Es existiert eine lange US-amerikanische Tradition literarischer Naturbeschreibung. Gilbert White, Henry David Thoreau, Annie Dillard – auch sie haben Orte für längere Zeit untersucht. Sehen Sie sich in dieser Tradition?
Ja. Ich habe mich wie sie still hingesetzt und eine ganze Weile beobachtet. Allerdings in einem viel kleineren Maßstab. Und dieser kleine Flecken Erde war mit Bedacht gewählt und angelehnt an eine bestimmte Meditationspraxis. Etwa die Vipassana Meditation, bei der man seine Konzentration nur auf den Atem lenkt, immer und immer wieder.
Sie nennen den Bodenkreis im Buch auch das Wald-Mandala. Warum?
Wenn Buddhisten aus farbigem Sand einen großen Kreis mit Figuren und Linien erschaffen, symbolisiert das den Lauf des Lebens, seine Flüchtigkeit wie seine Vielfalt. In dem kleinen Sandrund, dem Mandala, offenbart sich die ganze Welt. Das mag ein bisschen widersprüchlich erscheinen: Aber indem ich mich entschleunige, mich auf ein Detail konzentriere, sehe ich vielleicht mehr oder anders. Wenn wir andere Lebewesen auf unserem Planeten beobachten, lernen wir uns besser kennen, so meine Idee. Ich habe sehr viel über mich und den Homo sapiens gelernt in diesem einen Jahr.
Foto: Buck Butler
David G. Haskell: Das verborgene Leben des Waldes. Ein Jahr Naturbeobachtung. Kunstmann, 325 Seiten, 22,95 €