“Muße ist gut für dich!” – “Stress ist gut für dich!” – Wer mit wachem Auge ein paar der aktuellen Wissenschaftsbücher mit Ratgeberanspruch liest, kann in Verwirrung geraten und den Verdacht bekommen, dass da manche Dinge allzu einfach dargestellt sind. Muße wird auf Dauer öde, Stress zermürbt. Der Wissenschaftsjournalist und Biologe Richard Friebe widersteht der Verführung der simplen Thesen – um den Preis, dass sich sein Buch nicht auf eine eingängige Formel bringen lässt. Das beginnt beim Titel: “Hormesis”. Wie hat Friebe diesen sperrigen Begriff auf den Buchdeckel geschmuggelt?
Schön, dass es ihm gelungen ist! Denn das Prinzip der Hormesis sollte jeder kennen, der sich für seine Gesundheit interessiert. Es besagt, dass manche Einflüsse auf den Körper, die in hoher Dosis schaden, in niedriger Dosis gesund sind. Das wusste schon Paracelsus im 16. Jahrhundert: “Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift; allein die Dosis macht, dass ein Ding kein Gift ist.”
Dieses Prinzip ist allgegenwärtig in Körper und Geist: in den Schutzreaktionen der Zellen auf radioaktive Strahlung, in der Anpassung von Bewegungsapparat und Energiestoffwechsel auf sportliche Beanspruchung und auch bei der Frage, ob Kinder als Belastung oder als Freude empfunden werden. Friebe erklärt die hormetischen Wirkungsweisen klar und sachlich und entscheidet sich dabei im Zweifelsfall eher für Präzision als für leichte Lesbarkeit. Damit mutet er dem Leser manchmal etwas zu, vermittelt ihm aber auch Tatsachen, statt nur hübsche Geschichten zu erzählen. Es ist wirklich erfreulich, mal wieder ein wissenschaftliches Sachbuch zu lesen, das die Dinge nicht einfacher macht, als sie sind – und dem es gelingt, eine andere Perspektive zu öffnen.
Das Hormesis-Prinzip kann, wie Friebe schreibt, neue Wege in der Therapie von Krebs und Diabetes weisen. Und es wirft ein neues Licht auf die ‧Frage, was Gesundheit eigentlich bedeutet. Der Nachteil am Hormesis-Prinzip ist, dass es sich nicht in schlichte Gesundheitsrezepte à la “Gut für…, schlecht für…” verpacken lässt. Dafür aber trifft es die Wahrheit. Eben wie bei Muße und Stress: Auf die Dosis kommt es an.