Schon bald nach der Entdeckung der Spiegelneuronen hieß es, dieser neue Typ von Hirnzellen würde sich für die Psychologie als ebenso wichtig erweisen wie das Erbmolekül DNA für die Biologie. Nun hat der renommierte amerikanische Hirnforscher Gregory Hickok in seinem Buch über ein Jahrzehnt intensiver Forschung an Spiegelneuronen zusammengefasst – und sein Schluss ist weitaus bescheidener.
Die wundersamen Zellen wurden Anfang der 1990er-Jahre von italienischen Forschern bei Makaken, einer Affenart, entdeckt. Rasch avancierten sie zum Mittelpunkt einer Theorie, die auch komplexe menschliche Verhaltensweisen mit Spiegelneuronen erklären will. Ein nicht abreißender Strom von Veröffentlichungen in wissenschaftlichen Zeitschriften verwickelte die bislang unbekannten Hirnzellen in alle erdenklichen menschlichen Fähigkeiten, Phänomene und Krankheiten. Das Spektrum reicht vom Lippenlesen und ansteckendem Gähnen über das Ausmaß der männlichen Erektion und Führungsqualitäten im Beruf bis hin zu Gedankenlesen, Wertschätzung für Musik und Kunst, Massenhysterie und Vetternwirtschaft.
Erst seit 2010 ist belegt, dass es Spiegelneuronen auch beim Menschen gibt. Doch wozu sie gut sind, ist weitgehend ungeklärt. Schon den theoretischen Grundpfeiler, von Affen auf Menschen zu schließen, hält Hickok für falsch, die Interpretation der Versuche an Makaken für übertrieben. Vor allem aber argumentiert der Hirnforscher gegen die These, die Spiegelneuronen seien maßgeblich für das Erzeugen und Verstehen von Sprache. Dafür konnte Hickok, dessen eigenes neurowissenschaftliches Forschungsgebiet das Sprechen und die Sprache ist, keinerlei Anhaltspunkte finden. Mit vielen weiteren Gegenargumenten kratzt der amerikanische Forscher am Bild der Spiegelneuronen und entlarvt die große Bedeutung der winzigen Zellen für das Wesen und Handeln des Menschen als Mär.
Letztlich wird wohl auch für die Spiegelneuronen gelten, was sich schon bei der DNA gezeigt hat: Die Buchstabenfolge der DNA allein kann das Leben nicht erklären – und die Spiegelneuronen als Bestandteile des Gehirns erklären sicher nicht alle komplexen Verhaltensweisen des Menschen.