Daniel Tammet spielt mit Mengen und Zahlen wie ein Jongleur mit Bällen und Ringen. Und das kommt nicht von ungefähr: Tammet ist Savant. Er hat eine Inselbegabung, eine seltene Form von Autismus, die ihm neben seiner Entwicklungsstörung ein außerordentliches Talent für Mathematik beschert. Der Brite kann nicht nur die schwierigsten Rechenaufgaben im Kopf lösen, bis auf die 100. Nachkommastelle genau, sondern er kann auch die ersten 22 514 Stellen von Pi auswendig hersagen.
Für die meisten Menschen sind Zahlen abstrakt, sozusagen der Inbegriff der Rationalität. Für Daniel Tammet haben sie eine Farbe und eine Form, sind schön oder hässlich, besitzen einen Charakter. Sein Buch hat dadurch einen ganz eigenen Zauber. Das liegt auch daran, dass Tammet sich nicht in lange Erklärungen versteigt. Er nimmt den Leser einfach an die Hand und zeigt ihm begeistert sein Paradies aus Zahlen. Dabei führt er ihm die innere Symmetrie von Gedichten vor Augen, die Logik der Weltgeschichte und sogar die Mathematik Gottes. Wer ihm folgt, bekommt eine Ahnung davon, wie wundersam er das Leben wahrnimmt. Zum Beispiel seine Wahlheimat Paris bei Nacht: „In diesen Stunden spitzen in der ganzen Stadt Künstler ihre Bleistifte, tauchen Pinsel in die Farbe und stimmen die Gitarren. Andere, mit ihren Theoremen und Gleichungen, stürzen sich genauso intensiv in die Welt der Möglichkeiten. […] Ein Mathematiker an seinem Schreibtisch erhascht einen Blick auf etwas bisher Unsichtbares. Er ist gerade dabei, die Dunkelheit in Licht zu verwandeln.”
Man kann dieses Buch als Teil eines großen sozialen Prozesses sehen: Autisten finden immer mehr Anerkennung. Vor 20 bis 30 Jahren noch galten sie als fremde, unzugängliche Wesen. Inzwischen versteht man immer besser, wie sie denken und fühlen. Große Konzerne wie SAP suchen sogar gezielt nach ihnen, weil sie die außergewöhnliche Begabung dieser Menschen nutzen wollen – bild der wissenschaft berichtete im März-Heft darüber („Ein Handicap wird zur Gabe”, ab S. 78). Tammets Buch überzeugt den Leser davon, dass es eine Bereicherung ist, Einblicke in die fantastische Welt der Savants zu bekommen.
Tobias Hürter