In gängigen Werken über die Entwicklung der Menschen wirken ihre Fortschritte oft wie eine Kette aufeinanderfolgender Ereignisse. Jeder neue Schritt scheint vom vorhergehenden beeinflusst zu sein. Diesem Verständnis von Kultur als fortlaufendem Prozess widerspricht die italienische Archäologin Silvia Ferrara.
Für die Professorin für Ägäische Kulturen an der Universität Bologna mündet das Studium der Zeugnisse steinzeitlichen Denkens in folgender Erkenntnis: Die Entwicklung verlief in zeitlich und geografisch unvorhersehbaren Sprüngen.
Ihre Belege findet sie in den Zeichen und Zeichnungen, mit denen Menschen begannen, sich selbst und ihre Umwelt darzustellen – ob im Inneren lichtloser Höhlen, auf Felswänden oder an kultischen Bauwerken. Das Panorama, das sie entrollt, reicht von einfachen Hand- und Fußabdrücken über Jagdszenen und erotische Motive bis hin zu rätselhaften Piktogrammen, in denen spätere Betrachter zuweilen gar Belege für den Besuch außerirdischer Intelligenzen auf der Erde sahen.
Ferrara springt mit ihren Lesern vor und zurück durch die Jahrtausende, kreuz und quer über den Globus: Wir stehen in den Höhlen von Chauvet und Lascaux, finden uns plötzlich auf Hawaii wieder und landen nach einem Zwischenstopp im Iran in der Sahara. Aber nicht in der glutheißen Sandwüste von heute, sondern in einer grünen Landschaft, im Afrika vor zwölftausend Jahren, als die Menschen an gleicher Stelle in großen Seen Fische fingen, in endlosen Savannen Rinder hüteten – und ihr Leben tausendfach in Felswände gravierten.
Ihre Deutungen steinzeitlicher Bildnisse sind in dieser großartigen Erzählung verknüpft mit Forschungen aus Anthropologie, Archäologie und Neurowissenschaften. Und am Ende dieser so erhellenden wie unterhaltsamen Lektüre fordert Ferrara ihre Leser zu einem letzten Sprung auf – in die Zukunft des Denkens. Sie fragt: Wie werden die Menschen in vielen tausend Jahren die Zeichen lesen, die wir ihnen heute hinterlassen? Wenn sie etwa das gelbschwarze Symbol für: „Radioaktivität – Lebensgefahr“ über unterirdischen Felskavernen finden. Werden sie erkennen, was wir ihnen sagen wollten? Jürgen Nakott
Silvia Ferrara
DER SPRUNG
Eine Reise zu den Anfängen des Denkens in der Steinzeit
C. H. Beck, 224 S., € 26,—
ISBN 978-3-406-79782-8