Natur und Kultur sind keine Gegensätze, sondern gehen Hand in Hand. Ein überzeugendes Plädoyer des Primatenforschers Frans de Waal dafür, dass Empathie, Kooperation und Versöhnung das biologische Erbe des Menschen sind.
Ratten, die kichern, wenn sie gekitzelt werden, eine Dohle, die tagelang den Himmel absucht, weil sie ihren Partner vermisst, ein Hund, der einen Nervenzusammenbruch bekommt, weil er versehentlich sein Alphatier Konrad Lorenz gebissen hat: Mit Vergnügen liest man diese Geschichten. Doch es wäre nicht Frans de Waal, wenn er sich mit Anekdoten, die das Herz rühren, zufriedengäbe. Der Primatenforscher, der vom Time Magazin auf die Liste der 100 weltweit einflussreichsten Persönlichkeiten gesetzt wurde, will in seinem neuen Buch die großen Linien der sozialen Evolution aufzeigen. Dazu destilliert er die wichtigsten Erkenntnisse aus seinen zahlreichen Studien an Menschenaffen – und wirft dabei manche eingängige These über Bord. Dass de Waal den Behaviorismus, dessen Vertreter Tiere zu Reiz-Reaktions-Maschinen degradiert haben, geradezu hasst, ist nichts Neues. Und dass er „egoistische Gene“ für Humbug hält, auch nicht. Seit Jahrzehnten belegt de Waal, oft gegen erbitterte Widerstände, dass Tiere Emotionen haben, dass Empathie, Kooperation, Konfliktlösung und Versöhnung bei vielen Spezies entscheidender sind als Egoismus und Aggression. Doch wie souverän und freundlich im Ton er berühmte Forscher wie Steven Pinker mit seinen Thesen zur Gewalt oder John Rawls mit seiner Gerechtigkeitstheorie eins auf die Mütze gibt, ist großartig.
Das spannendste Kapitel ist das über Politik, Mord und Krieg. Die verbreitete Vorstellung lautet, dass Menschen von Natur aus zu Aggression neigen und sich erst durch die Zivilisation zu mäßigen lernten. Für de Waal ist das „Schnee von gestern“. Natürlich kennt er die kriegerischen Auseinandersetzungen unter Schimpansen. Aber er sieht auch die friedliebenden Bonobos und fragt sich, ob der letzte gemeinsame Vorfahre von Mensch und Menschenaffen eher den Bonobos als den Schimpansen ähnelte. Mit Verve vertritt er, dass Biologie und Zivilisation keine Gegensätze sind, für ihn gehen sie Hand in Hand. Kein Forscher schüttet seit Jahrzehnten so beharrlich Gräben zu: zwischen Kognition und Emotion, Tier und Mensch und eben Natur und Kultur. Ilona Jerger
Frans de Waal
MAMAS LETZTE UMARMUNG
Klett-Cotta, 430 S., € 26,–
ISBN 978–3–608–96464–6