Douwe Draaisma beschäftigt sich in seinem Buch des Vergessens mit dieser Kunst. Draaisma ist Professor für Geschichte der Psychologie an der niederländischen Universität Groningen. Bereits vor acht Jahren erregte er Aufsehen mit seinem hervorragenden Buch Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird über das Rätsel der Erinnerung. Sein neues Buch ist das Gegenstück über die Rätsel des Vergessens und ebenso lesenswert.
Die neurophysiologischen Mechanismen des Vergessens sind noch weitgehend im Dunkeln. Daher konzentriert Draaisma sich darauf, wie wir das Vergessen erleben. Er berichtet von zahlreichen interessanten Studien und erzählt Anekdoten darüber, wie Erinnerungen verblassen, verschwimmen und zusammenfließen. Etwa jene aus Flauberts Roman Madame Bovary, in der ein Liebhaber vergeblich versucht, sich anhand einer Zeichnung das Gesicht seiner Geliebten vor Augen zu rufen: als hätten sich das lebendige Gesicht und das gemalte Gesicht aneinander gerieben und gegenseitig ausge wischt. Hand aufs Herz, fordert Draaisma seine Leser auf, wer kann ohne Fotos behaupten, sich daran zu erinnern, wie die Menschen, mit denen er lebt, vor zehn Jahren aussahen?
Meist wird über die andere Seite des Gedächtnisses, das Erinnern, geredet. Es heißt, man speichert etwas ab, man prägt, hämmert oder brennt es sich ein. Vergessen hingegen ist einfach vergessen. Draaisma zeigt, welch großartige geistige Bildhauer-Arbeit wir dabei Tag für Tag leisten.
Tobias Hürter