Wissensbuch des Jahres 2022 in der Kategorie ZÜNDSTOFF
Wo die fast 200 Länder der Erde anfangen und aufhören, ist oft nicht präzise zu beantworten. Schuld daran sind meist ethnische, religiöse oder territoriale Konflikte. Im Nahen Osten wird seit Jahrzehnten gestritten. Um die Grenze zwischen der Ukraine und Russland tobt ein schlimmer Krieg. Und wo gefischt oder nach Öl gebohrt wird, liefern sich Staaten heftige Wortgefechte, in denen es um Begriffe wie „Hoheitsgewässer“, „Festlandsockel“ oder „Ausschließliche Wirtschaftszone“ geht. Selbst zwischen befreundeten Staaten gibt es Bewegung: Die Gletscherschmelze verschiebt die Ränder der Schweiz und von Italien.
Die Journalistin Delphine Papin und der Politikwissenschaftler Bruno Tertrais zeigen auf, wie sich Trennlinien wie der Römische Limes oder der Eiserne Vorhang gebildet und aufgelöst haben. Oder wo sich besonders kuriose Enklaven beziehungsweise Exklaven gebildet haben. Das Buch blickt weit zurück und ist grandios zeitgemäß. Facettenreich zeigt es, wie die Menschheit daran scheitert, endgültige Ordnungen in die Welt zu bringen, es dennoch immer wieder versucht – und mit großem Aufwand Erfolge erzielt. Man könnte naiv denken: Anders als Kulturkreise oder Ethnien machen Flüsse uns das Leben beim Kartografieren leicht. Auch dies stimmt nur zum Teil. Soll das Ufer, die Mitte oder der tiefste Punkt die Grenze bilden? Flüsse mäandern, treten über die Ufer, schrumpfen zu Rinnsalen. Es findet sich immer Gelegenheit zum Streiten. Urs Willmann
Delphine Papin, Bruno Tertrais
ATLAS DER UNORDNUNG
60 Karten über sichtbare, unsichtbare und sonderbare Grenzen
wbg Theiss, 176 S., € 28,–
ISBN 978–3–806–24427–4