Die gleichmäßig dahinfließende Zeit lässt sich messen. Aber es gibt auch die subjektiv erlebte Zeit, die keine Uhr erfassen kann. Guido Tonelli nähert sich ihr aus vielerlei Blickwinkeln.
Was ist der wichtigste Unterschied zwischen einem Elektron und einem Menschen? Elektronen altern nicht. Sie kriegen keine Falten. Sie sind unsterblich. Für Elektronen gibt es keine Zeit. Für Menschen ist Zeit alles. Sie haben meistens zu wenig Zeit. Zeit ist unbezahlbar, und sie vergeht ausgerechnet dann zu langsam, wenn man sich langweilt – und zu schnell, wenn es spannend ist. Je mehr man über die Zeit nachdenkt, desto rätselhafter erscheint sie. Hatte sie einen Anfang, wird sie enden? Hat sie eine feste Richtung, oder kann sie sich umkehren? Kann sie im Kreis verlaufen? Der italienische Physiker Guido Tonelli umzingelt in seinem Buch das Rätsel der Zeit. Er ist Teilchenphysiker, hat in führender Position am CERN geforscht und war an der Entdeckung des Higgs-Bosons beteiligt. Die Zeit der Elektronen und anderer Elementarteilchen interessiert ihn daher besonders.
Chronos, der Titelgeber des Buchs, ist der Gott der alten Griechen für die Zeit. Sie hatten noch einen: Kairos. Chronos war zuständig für die „objektive“, gleichmäßig und unerschütterlich dahinfließende Zeit, die sich mit Uhren messen lässt. Kairos herrschte über die günstigen und falschen Momente, die Langeweile und das Überstürzen der Ereignisse – über die erlebte Zeit, deren Reichtum, Dynamik und Sprunghaftigkeit keine Uhr erfassen kann. Das große Rätsel der Zeit besteht darin, wie diese beiden Zeitgötter sich versöhnen lassen.
Dieses Rätsel lässt sich nur mit offenem Blick betrachten. Deshalb nähert Tonelli sich der Zeit auch aus der Perspektive der Kunst, Musik, Literatur, Psychologie und Philosophie. Es ist faszinierend zu lesen, wie jede dieser Disziplinen zum Verständnis der Zeit beiträgt, wie zum Beispiel die Musik hilft zu begreifen, wie das Zeitempfinden im Gehirn entsteht. Wer Licht in dieses gewaltige Rätsel bringen will, braucht einen weiten Blick, wie Tonelli ihn in seinem wunderbar geschriebenen Buch öffnet. Tobias Hürter
Guido Tonelli
CHRONOS
C.H. Beck, 255 S., € 26,–
ISBN 978–3–406–79184–0