Evolution ist, so die gängige Vorstellung, ein gerichteter Prozess: Am Anfang steht ein primitiver Organismus, der sich über Milliarden Jahre hinweg zu „höheren“ Lebensformen entwickelt. Am Ende und im Stammbaum ganz oben steht der Mensch. Mit dieser Idee räumt Neil Shubin gründlich auf. Der Paläontologe der University of Chicago schildert die Evolution vom Beginn des ersten Lebens bis heute als eine Achterbahnfahrt, die immer wieder eine unvorhersehbare Richtung nahm und deren Ziel nie feststand. Und die noch längst nicht zu Ende ist.
Shubin führt fort, was er mit seinem preisgekrönten Bestseller „Der Fisch in uns“ vielen Lesern erstmals bewusst gemacht hat: dass das Erbgut des Menschen nur zu gerade mal zwei Prozent „typisch menschlich“ ist. Der große Rest besteht aus einem Sammelsurium von Genen, die man auch in anderen Arten findet – in Würmern und in Weizen ebenso wie in Echsen und Einzellern.
Beinahe zehn Prozent unseres Erbguts stammen übrigens ursprünglich von Viren und Bakterien, die unsere Ahnen infiziert und deren Genom wir uns im Laufe der Evolution über Jahrmillionen hinweg sprichwörtlich einverleibt und deren Fähigkeiten wir uns zunutze gemacht haben. Zum Beispiel, um Energie zu erzeugen oder um unser Immunsystem zu stärken.
Wie Shubin solche Informationen präsentiert, während er seine eigene Evolution vom steineklopfenden Fossiliensammler zum heutigen DNA-Detektiv schildert, ist große Erzählkunst. Jürgen Nakott
Neil Shubin
DIE GESCHICHTE DES LEBENS
S. Fischer, 352 S., 24,–
ISBN 978–3–103–97240–5