Ein Forscherteam an der Universität Stuttgart entwickelt eine Methode, um aus unsicheren Daten verlässliche technische Vorhersagen treffen zu können. Das funktioniert nur mit einem sehr leistungsfähigen Computer
von MICHAEL VOGEL
Bahnfahrer kennen das: Da verpasst man den Anschlusszug nur um wenige Augenblicke – und man kommt gleich mehrere Stunden später erst am Ziel an. Kleine Ursachen können eben große Wirkungen haben: Das ist nicht nur bei der Reise mit der Bahn so. Vergleichbare Phänomene gibt es in der Natur, der Technik, im Straßenverkehr und beim Verhalten von großen Menschenansammlungen. Sie werden in der Fachwelt als nichtlineare Effekte bezeichnet.
Ein weiteres Beispiel sind die Strömungsgeräusche bei Autos – Geräusche, die durch den Fahrtwind entstehen. „Obwohl die Fahrzeughersteller hierauf schon bei der Entwicklung ihr Augenmerk legen, kann es später beim Prototyp in gewissen Situationen unangenehm pfeifen“, sagt Andrea Beck. Die promovierte Luft- und Raumfahrtingenieurin am Institut für Aerodynamik und Gasdynamik (IAG) der Universität Stuttgart entwickelt keine Autos, aber sie erforscht Methoden, mit denen sich dieses unerwünschte Pfeifen zuverlässig vorhersagen lässt. Ihr Werkzeug dafür sind aufwendige Computersimulationen.
Kleine Ursache, große Wirkung
„Simulationen, wie sie inzwischen bei der Fahrzeugentwicklung etabliert sind, liefern leider kein vollständiges Bild dieser Pfeifgeräusche“, beklagt Beck. Denn das Phänomen lässt sich nur schwer fassen: Ist die Geschwindigkeit bloß wenig höher, tritt das Pfeifen womöglich nicht mehr auf. Ist die Lufttemperatur etwas niedriger, wird es vielleicht stärker. Und hat ein Spalt an der Heckklappe aufgrund der Fertigungstoleranzen eine nur geringfügig andere Breite, kann das den Pfeifton richtig schrill klingen lassen.
„An diesen Beispielen sieht man das grundsätzliche Dilemma heutiger Strömungssimulationen in der Automobilentwicklung: Die möglichen Werte der Eingangsgrößen wie Geschwindigkeit oder Fertigungsmaße können schwanken“, sagt Beck. Deshalb gehen die Wissenschaftlerin und ihr Team einen anderen Weg: „Wir akzeptieren die Situation, akzeptieren sozusagen diese Unsicherheit, und suchen nach rechnerischen Methoden, um daraus trotzdem verlässliche Vorhersagen treffen zu können“, erklärt sie.
Schwankende Eingangsgrößen
In dem von der Baden-Württemberg Stiftung finanzierten Forschungsprojekt SEAL („Simulation der Entstehung und Ausbreitung von Lärm in Strömungen“) werden diese Vorhersagen genauer erforscht. Projektpartner des IAG ist das Institut für Angewandte Analysis und Numerische Simulation der Universität Stuttgart.
Durch die unsicheren Eingangsgrößen hat man es mit sehr großen Datenmengen zu tun. Denn Beck und ihr Team müssen einen realistischen Bereich bei Geschwindigkeit, Temperatur und Fertigungstoleranzen abdecken und das alles dann zeitlich und räumlich fein aufgelöst simulieren. Jede Eingangsgröße in der Simulation kann in etlichen Millionen Varianten vorliegen. Und für jede einzelne Eingangsgröße gilt es, ungefähr zehn Millionen Zeitschritte zu simulieren.
Dafür genügt kein gewöhnlicher Bürorechner – dafür bedarf es eines Supercomputers, wie er beispielsweise im Höchstleistungsrechenzentrum der Universität Stuttgart steht: Ein PC arbeitet mit einigen wenigen Prozessorkernen, ein Superrechner nutzt Hunderttausende oder Millionen Kerne. „Und selbst so ein Supercomputer muss für eine unserer Simulationen noch viele Stunden lang rechnen“, verdeutlicht Andrea Beck den Aufwand.
Auf viele Probleme übertragbar
Im Projekt SEAL will das Wissenschaftlerteam erreichen, dass sich mit der neuen Simulationsmethode zwei Fragen beantworten lassen: Wann tritt das Pfeifen auf? Und wie lässt sich zuverlässig verhindern, dass es pfeift?
„Das Gute an unserem Ansatz ist, dass er sich auf andere ingenieurwissenschaftliche Probleme übertragen lässt“, betont die Forscherin – etwa auf die Frage, wie sich Schwingungen auf die Lebensdauer von Bauteilen auswirken. Eben auf alles, wo eine kleine Ursache eine große Wirkung hat.