„Die Macht der Musik kann man im Gehirn erkennen”, sagt der New Yorker Neurologe und Schriftsteller Oliver Sacks. Profimusiker haben mehr Nervensubstanz in den auditorischen, motorischen, visuell-räumlichen Großhirnarealen und im Kleinhirn sowie einen größeren Balken, der die beiden Gehirnhälften miteinander verbindet. Und das umso mehr, je häufiger die Musiker üben und je früher im Leben sie damit begonnen haben. Aber selbst wenige Minuten Musizieren hinterlassen messbare Spuren im Gehirn. Wer sich eine Melodie lebhaft vorstellt, aktiviert seinen auditorischen Cortex, die Hörrinde, fast so, als würde er sie wirklich hören. Und wer mit einem Absoluten Gehör gesegnet ist, hat ein größeres linkes Planum temporale, eine der Hörrinde benachbarte Region. Was auch ein Fluch sein kann, wenn man wie der Oxforder Musik-Professor Frederick Ouseley schon als Kind mit anhören muss, wie der Vater in G schnäuzt oder der Wind in D wispert.
Aber es war weniger die Anatomie des Gehirns, mit dem Oliver Sacks seine Zuhörer im Oktober 2007 in Manhattan fesselte. Im voll besetzten Vortragssaal der New York Academy of Science stellte er sein neues Buch vor, das jetzt in deutscher Übersetzung erscheint. Es enthält zahlreiche skurrile und auch tragische Geschichten, die das Schicksal in das Gehirn mancher Menschen eingraviert hat.
Ein Lied rettet das Bein
„Musikalische Fähigkeiten sind erstaunlich robust und überstehen oft schwere Gehirnschäden, etwa eine Aphasie und eine Demenz”, sagt Sacks. Das hat praktische Konsequenzen, denn oft kann eine gut abgestimmte Musiktherapie selbst Patienten erreichen und deren Lebensqualität verbessern, die sonst keine Chance hätten. Beispielsweise können Menschen, deren Sprechfähigkeit durch einen Schlaganfall verloren gegangen ist, noch Lieder mitsingen. Und Parkinson-Kranke, die im fortgeschrittenen Stadium teilweise erstarren, finden durch einen klar strukturierten Rhythmus vorübergehend wieder eine gewisse Beweglichkeit, wie Oliver Sacks schon in den Sechzigerjahren entdeckt hat. „Das war unglaublich”, erinnerte er sich in New York. „Die Musik konnte sie befreien. Ob sie ihnen gefiel, war nebensächlich.” Wie gut eine musikalische Aktivierung helfen kann, hatte Sacks am eigenen Leib erfahren, als er sich 1974 in den norwegischen Bergen ein Bein brach. Nur die Erinnerung an den Rhythmus des Lieds der Wolgaschiffer verdankt er es, dass er sich quasi auf den Ellenbogen zurück ins Tal zu schleppen vermochte. Sein Bein gehorchte ihm dann wochenlang nicht mehr. Als er sich eines Tages jedoch Felix Mendelssohns Violinkonzert durch den Kopf gehen ließ, das er zuvor oft gehört hatte, fand er auf wundersame Weise seine eigene Bewegungsmelodie. „Im gleichen Moment, als die innere Musik begann, kam das Bein zurück. Ohne Warnung, ohne Übergang fühlte es sich lebendig und als mein eigenes an”, berichtet Sacks.
Manche Menschen trifft die Musik wie ein Schlag. Bei Tony Cicoria gilt das wörtlich: Als 44-Jähriger wurde der Chirurg 1994 vom Blitz getroffen. Er überlebte, aber nach einigen Wochen verspürte er einen unstillbaren Drang nach Klavierstücken, vor allem von Frédéric Chopin. Und das, obwohl er zuvor hauptsächlich Rockmusik gehört und nur als Kind ein wenig Klavierspielen gelernt hatte, „ohne wirkliches Interesse”.
Nach einiger Zeit vernahm er auch in sich Musik, wie eine Inspiration. „Es ist wie ein Radiokanal. Wenn ich mich öffne, kommt es”, berichtete er Sacks. „Ich möchte wie Mozart sagen: ,Es kommt aus dem Himmel‘.” Cicoria übte weiter seinen Beruf aus, aber jede freie Minute verbrachte er damit, Klavier zu spielen oder seine inneren Klänge zu notieren. „Ich war besessen.” 2004 zerbrach seine Ehe, und er überstand einen schweren Motorradunfall. Aber all das scheint ihm nichts auszumachen. Er glaubt, dass der Blitzschlag ihn der Musik wegen am Leben gelassen hat. „Es war ein Glückstreffer.”
MELODIEN BEIM FLIEGEN
Dass die Musik ein Eigenleben entwickeln kann, kennt jeder, der schon mal einen „Ohrwurm” eine Weile nicht mehr aus dem Kopf bekam. Doch musikalische Halluzinationen lassen das Gehirn gar nicht mehr los. Ein Patient von Oliver Sacks wird seit seinem siebten Lebensjahr von Melodien verfolgt. Bei einem anderen löste das Geräusch von Flugzeugmotoren Musikhalluzinationen aus – anfangs nur beim Fliegen selbst, dann aber hörten die Melodien gar nicht mehr auf. Es helfe nur, sagt er, sie mit echter Musik zu überspielen. Der Komponist Robert Schumann wurde an seinem Lebensende von „Gehöraffektionen” – und Syphilis – heimgesucht. Die Melodien tobten in seinem Kopf, raubten ihm den Schlaf und verdichteten sich schließlich zu einem einzigen anhaltenden Ton. Auch der Komponist Dimitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch hatte akustische Halluzinationen – aber nur, wenn er den Kopf schräg hielt. Jedes Mal vernahm er dann eine andere Melodie, die er teilweise in seine Werke integrierte, und die wieder stoppte, sobald er den Kopf hob. Ursache war der Splitter einer Granate, der während der Leningrader Blockade im Zweiten Weltkrieg in seine Hörrinde eingedrungen war.
Solche musikalischen Halluzinationen sind nicht eingebildet oder psychotisch, sondern hartnäckige Hirngespinste. Von Medikamenten lassen sie sich kaum unterdrücken, allenfalls lindern. Sie scheinen aus vielen Gehirnregionen entspringen zu können: den Schläfen- oder Stirnlappen, dem Kleinhirn und den Basalganglien. Alle diese Bereiche sind auch beim Hören realer Musik aktiv. Mitunter wirken epileptische Anfälle als Auslöser. Eine allmähliche Ertaubung kann ebenfalls die Halluzinationen verursachen – wahrscheinlich, weil das Gehirn dann unterbeschäftigt ist. Umgekehrt kann Musik zu epileptischen Anfällen führen. Eine solche „Musikolepsie” beschrieb der Neurologe Macdonald Critchley bereits 1937 bei elf Patienten – ob diese musikalisch waren oder nicht, spielte dabei keine Rolle. Oliver Sacks kennt ähnliche Fälle. Ein junger Mann entwickelte eine Klangempfindlichkeit nach einer Hirnhautentzündung. Daraufhin lösten ganz verschiedene Musikstile – von Rock bis zur Klassik – bei ihm epileptische Anfälle aus.
Klavierspiel stoppt Zuckungen
Bei einer anderen Patientin wurden die Anfälle so heftig, dass schließlich ein Teil ihres linken Schläfenlappens entfernt werden musste. Besonders eigentümlich ist die Geschichte eines Briten, der mehrfach beim Radiohören um genau 8 Uhr 59 das Bewusstsein verlor. Seine Musikolepsie wurde, wie sich später herausstellte, von Glockentönen ausgelöst – damals übertrug die BBC vor den 9-Uhr-Nachrichten den Klang der Londoner Bow-Church-Glocken.
Schon wenige Töne können ein Leben völlig durcheinander bringen. Umgekehrt kann Musik auch beruhigen: Sacks berichtet von einem englischen Musiker mit schwerem Tourette-Syndrom. Diese motorische Störung führt bei ihm an manchen Tagen zu fast 40 000 unwillkürlichen Muskelzuckungen – aber beim Klavierspielen findet sein Körper eine Weile Frieden.
Manchmal bilden die Melodien die einzigen emotionalen Reservate in einem ansonsten völlig erstorbenen Gefühlsleben. Beispielsweise bei Sacks erstem Patienten: Sacks lernte ihn 1966 kennen, als er im Beth Abraham Hospital in der Bronx zu arbeiten begann, und begleitete ihn bis zu seinem Tod 30 Jahre später. Nach einer schweren Hirnblutung, die sein Stirnhirn schädigte, und mehreren Wochen im Koma erholte sich der Ingenieur zwar intellektuell wieder, verlor aber seine Arbeit, seine Frau, die Beweglichkeit seiner Beine – und ein Stück seiner Persönlichkeit. Er war an nichts mehr interessiert, obwohl er Zeitungen und Wissenschaftszeitschriften weiterhin akribisch las. Nur wenn er sang, und das tat er oft, war ein tiefer emotionaler Ausdruck in seiner Stimme. „Vielleicht sprach die Macht der Musik durch ihn”, sinniert Sacks, dem der Mann noch eine Woche, bevor er an einem inoperablen Hydrozephalus (Wasserkopf) starb, „Down in the Valley” intonierte.
Es gibt aber auch Menschen, deren Sinn für Musik völlig ausfällt. Neuropsychologen nennen eine solche Störung, die nicht mit anderen Beeinträchtigungen einhergehen muss, Amusie. Davon gibt es mehrere Varianten. Bei einer geht das Gefühl für Rhythmen verloren – etwa nach Schädigungen in der linken Großhirnhälfte, im Kleinhirn oder in subcorticalen Bereichen. Oder das Erkennen von Melodien wird unmöglich – dafür ist eher die rechte Hirnhälfte zuständig.
Oliver Sacks hatte selbst einmal eine temporäre Amusie erlebt: Eine Mazurka von Frédéric Chopin, die er auf dem Klavier spielte, hatte für ihn plötzlich keinen Sinn mehr. Die Melodie zerbrach, alles bekam einen „metallischen Nachhall”. Stimmen und andere Geräusche klangen dagegen normal. Die Ursache für die seltsame Erscheinung war eine Migräne-Attacke.
schrille Schreie in der Oper
Bei einigen Menschen ist die Amusie angeboren. Eine von Sacks Patientinnen, eine weit über Siebzigjährige mit gutem Rhythmus-Empfinden, hatte keinerlei Gespür für Melodien, obwohl sie einer Familie entstammte, in der jeder ein Instrument spielte. „Es ist, wie wenn Sie in meine Küche kämen und alle Töpfe und Pfannen auf den Flur werfen würden”, sagt sie. Hohe Töne in der Oper kommen ihr wie Schreie vor. Nicht einmal die amerikanische Nationalhymne kann sie erkennen, ebenso wenig „ Happy Birthday”, obwohl sie das als Lehrerin sehr oft in der Schule vom Tonband abspielte, wenn ein Kind Geburtstag hatte.
Fast umgekehrt wirkt das Schicksal von Clive Wearing. Der britische Musiker, Dirigent und Musikwissenschaftler, der auch für die BBC arbeitete, bekam 1985 eine schwere Hirnhautentzündung. Die Herpes-simplex-Viren zerstörten Teile seiner Schläfenlappen, besonders links, einschließlich des Hippocampus, aber auch Bereiche des Vorderhirns und des Balkens. Die Folge war eine schwere Amnesie. Wearing kann sich seither kaum noch an sein früheres Leben erinnern, und er ist auch nicht in der Lage, sich etwas zu merken. Kurioserweise hatte er zwei Monate vor seiner Erkrankung in einem Buch von Sacks über eine solche Störung gelesen – ohne zu ahnen, dass er dabei in den dunklen Spiegel seiner Zukunft blickte. Schon was wenige Sekunden zurückliegt, entgleitet Wearing völlig. Dabei sind seine Intelligenz und sein Ausdrucksvermögen weitgehend intakt. „Es ist, wie tot zu sein”, sagte der Mann ohne Gedächtnis einmal zu seiner Frau Deborah, die er kurz vor der Erkrankung geheiratet hatte – und bei jedem Treffen so herzlich umarmt, als hätte er sie seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Wearings musikalische Fähigkeiten blieben wie Inseln in einem Ozean des Vergessens erhalten – sie basieren offenbar auf nicht geschädigten Hirnregionen. „Musik zu erinnern ist gar kein Erinnern im üblichen Sinn”, meint Sacks. „Musik zu erinnern, zu hören, zu spielen, das alles geschieht völlig in der Gegenwart.”
Wearing kann noch dirigieren und spielt weiter Bach – so virtuos wie vor 20 Jahren, obwohl er nichts von dem Stück weiß, bevor er vor den Noten sitzt. Präludien von Johann Sebastian Bach können ihm seine Vergangenheit nicht zurückgeben, aber sie bringen ihn in die Gegenwart. „Die Musik ist eine Brücke über dem Abgrund, eine vorübergehende Erlösung von seiner schrecklichen Einsamkeit der Amnesie”, sagt Sacks. „In gewisser Weise befindet er sich nirgendwo. Er hat Raum und Zeit verlassen. Aber man muss ihn nur am Keyboard sehen oder mit Deborah, um zu fühlen, dass er in solchen Zeiten wieder er selbst ist und völlig lebendig”. ■
von Rüdiger Vaas
Oliver Sacks
„Jede Krankheit ist ein musikalisches Problem – die Heilung eine musikalische Auflösung.” Oliver Sacks zitiert diesen Satz von Novalis häufig. „Ich bin kein Musiker oder Musikexperte”, sagt der berühmte Neurologe. „Ich hatte nicht die Absicht, ein Buch zu schreiben, das der Musik gewidmet ist, aber dieses Buch fand mich.” „Musicophilia” ist sein zehntes Buch – und wieder ein Bestseller.
Der 1933 in London geborene Neurologe studierte in Oxford und begann an der University of California in Los Angeles neurowissenschaftlich zu forschen. 1965 zog er nach New York, wo er bis heute lebt. Ab 1966 kümmerte er sich im Beth Abraham Hospital um chronisch Kranke. Sacks war Professor für Klinische Neurologie am Albert Einstein College of Medicine und an der New York University School of Medicine, wo er 43 Jahre lang arbeitete. Seit 2007 ist er Professor an der Columbia University. Außerdem hat er eine eigene neurologische Praxis.
Berühmt wurde Oliver Sacks durch seine Fallgeschichten. Er beschreibt in ihnen einfühlsam, wie Menschen trotz schwerster Hirnschäden darum ringen, ihre Identität und Würde zu bewahren.
KOMPAKT
· Für den Musikgenuss sind die Schläfenlappen in der Großhirnrinde zuständig.
· Manche Menschen haben gar keinen Sinn für Melodien, andere halluzinieren Klänge.
· Es kommt vor, dass Menschen ihr Gedächtnis und Lernvermögen verlieren, aber weiter ein Gespür für Musik haben.
LESEN
Demnächst erscheint die deutsche Übersetzung von „Musicophilia” : Oliver Sacks DER EINARMIGE PIANIST Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2008, € 19,90
INTERNET
Homepage von Oliver Sacks: www.oliversacks.com/
Homepage zum Buch Musicophilia: musicophilia.com/