Über seine Stäbchen und Zapfen nimmt das menschliche Auge Lichtreize wahr und versorgt das Gehirn mit Informationen: über hell und dunkel und über Farben. Doch in unserer Netzhaut sitzen noch weitere Zellen, die empfindlich auf Licht reagieren und eine entscheidende Rolle für die Eichung unsere inneren Uhr spielen. Forscher haben sich diese speziellen Ganglienzellen nun genauer angesehen. Demnach besitzen wir mindestens drei unterschiedliche Typen dieser Lichtsensoren. Sie könnten eine wichtige Rolle für unseren Schlaf-Wach-Rhythmus spielen – und erklären, warum manche blinde Menschen Licht förmlich spüren.
Sonnenlicht ist für unsere Gesundheit von entscheidender Bedeutung: Es spielt eine wichtige Rolle als Taktgeber für die innere Uhr des Menschen, kurbelt die Produktion von Vitaminen an und wirkt sich sogar positiv auf unser Denkvermögen und unsere Psyche aus. Doch künstliches Licht, Büroarbeit, Nachtschichten und andere Phänomene der modernen Gesellschaft führen dazu, dass der natürliche Einfluss des Tageslichts immer seltener zum Tragen kommt. “Wir sind inzwischen zu einer in Innenräumen lebenden Spezies geworden, die sich dem naturgegebenen Zyklus von Tageslicht am Tag und fast völliger Dunkelheit in der Nacht zunehmend entzieht”, sagt Satchidanada Panda vom Salk Institute for Biological Studies in La Jolla. Mit spürbaren Folgen: Störungen des normalen Tag-Nacht-Rhythmus können Schlafprobleme, Übergewicht und sogar Krankheiten wie Krebs und Depressionen fördern.
Um diesen Problemen entgegenzuwirken, wollen Forscher besser verstehen, wie unsere Augen und unser Gehirn Licht wahrnehmen. Denn diese Erkenntnisse könnten die Entwicklung “intelligenter” Beleuchtungen ermöglichen, die zur Erhaltung einer gesunden circadianen Rhythmik beitragen. Bekannt ist, dass neben den Stäbchen- und Zapfenzellen auch bestimmte Ganglienzellen in der Netzhaut empfindlich auf Licht reagieren. Bei Mäusen spielen diese Zellen eine Rolle für den Tag-Nacht-Zyklus und steuern unter anderem Schlaf, Stimmung und Aufmerksamkeit. “Beim Menschen ist die Funktionsweise dieser Zellen bisher jedoch noch nie genauer untersucht worden”, erklären Panda und seine Kollegen um Erstautor Ludovic Mure.
Empfindlich für Blau
Genau das haben die Wissenschaftler nun nachgeholt. Für ihre Studie nutzten sie Netzhautspenden verstorbener Personen, die mithilfe einer speziellen Methode auch außerhalb des Körpers gesund und funktionstüchtig gehalten worden waren. An diesen Proben untersuchte Mures Team dann, wie die Ganglienzellen der Retina auf Lichtreize reagierten. Dabei stellten sie fest: Eine kleine Gruppe dieser Zellen beginnt tatsächlich zu feuern, wenn sie Lichtreizen ausgesetzt wird. Besonders empfindlich reagieren diese speziellen Ganglienzellen demnach auf Licht im blauen Spektrum. Dieser Bereich des sichtbaren Lichts ist typisch für Tageslicht – und strahlt uns häufig auch von den Bildschirmen unserer Laptops und Smartphones an.
Weitere Experimente enthüllten, dass die lichtempfindlichen Ganglienzellen in unserer Netzhaut mindestens drei unterschiedlichen Typen zugeordnet werden können. Diese Typen reagieren unterschiedlich schnell auf Lichtreize, bleiben länger oder kürzer “angeschaltet” oder werden nur bei bestimmten Helligkeiten aktiv. Zudem stellten die Forscher fest: Diese Lichtsensoren stehen nicht nur mit dem Gehirn in Verbindung. Sie arbeiten teilweise auch eng mit den anderen Zellen der Retina zusammen. Auf diese Weise können sie den von den Stäbchen und Zapfen vermittelten Bildern zum Beispiel ergänzende Informationen über Kontrast und Helligkeit hinzufügen.
Blinde spüren Licht
Wie Mure und seine Kollegen berichten, könnte die Lichtempfindlichkeit der Ganglienzellen auch ein von manchen Blinden bekanntes Phänomen erklären: Trotz nicht funktionierender Zapfen und Stäbchen und somit de facto keiner Sehfähigkeit, passt sich die innere Uhr der Betroffenen an den natürlichen Hell-Dunkel-Rhythmus an. Diese Menschen müssen das Licht folglich irgendwie spüren. Verantwortlich dafür könnten die lichtempfindlichen Ganglienzellen in der Retina sein, die die entsprechenden Signale an das Gehirn weiterleiten – ohne dass dadurch ein bewusster Seheindruck entsteht.
In Zukunft wollen die Wissenschaftler genauer untersuchen, wie die Ganglienzellen auf unterschiedliche Lichteinflüsse reagieren und ob sie bei jungen Menschen womöglich anders arbeiten als bei älteren. Auf lange Sicht erhoffen sie sich davon neue Ansätze für die Entwicklung von Leuchten für Büroräume und Krankenhäuser oder auch therapeutische Lampen gegen Depressionen, Migräne und andere Leiden. “Auch die Bildschirme von Fernsehern, Computern und Smartphones könnten dadurch verbessert werden”, schließt Panda.
Quelle: Ludovic Mure (Salk Institute for Biological Studies, La Jolla) et al., Science, doi: 10.1126/science.aaz0898