Mehr und mehr Bakterien entwickeln Resistenzen gegen gängige Antibiotika. Demgegenüber werden zu wenige neue antibiotische Wirkstoffe entwickelt, warnt die Weltgesundheitsorganisation WHO in einem Bericht. Zwischen 2017 und 2021 sind nur zwölf neue Antibiotika auf den Markt gekommen und nur 27 befinden sich in der Pipeline. Davon handelt es sich bei den meisten nicht um innovative, neue Wirkstoffe, sondern um Weiterentwicklungen bestehender Wirkstoffklassen.
Die Entdeckung des Penicillins im Jahr 1928 bedeutete eine medizinische Revolution. Zuvor tödlich verlaufende Infektionskrankheiten ließen sich mit Antibiotika innerhalb weniger Tage heilen. Mit der Zeit stellte sich allerdings heraus, dass Bakterien in der Lage sind, Resistenzen gegen die scheinbaren Wundermittel zu entwickeln. Heute befindet sich die medizinische Forschung in einem Wettlauf mit den Bakterien: Neue Antibiotikaklassen mit neuen Angriffspunkten und Wirkmechanismen können Resistenzen für eine Weile überwinden, doch gerade, wenn Antibiotika nicht verantwortungsbewusst eingesetzt werden, entwickeln sich rasch neue Resistenzen. So stellen Infektionen mit multiresistenten Erregern weltweit ein zunehmendes Problem dar. Schätzungen zufolge sterben jährlich fünf Millionen Menschen an Infektionen mit multiresistenten Keimen.
Wenige Innovationen
In einem 2022 veröffentlichten Bericht kommt die Weltgesundheitsorganisation WHO zu dem Schluss, dass aktuell zu wenige neue Antibiotika entwickelt werden, um den zunehmenden Resistenzen genügend entgegensetzen zu können. „In den fünf Jahren von 2017 bis 2021, auf die sich dieser Bericht bezieht, wurden nur zwölf Antibiotika zugelassen, von denen nur eines – Cefiderocol – gegen alle von der WHO als kritisch eingestuften Erreger wirkt“, erklärt Valeria Gigante, Teamleiterin der WHO-Abteilung für antimikrobielle Resistenz in Genf. Die Ergebnisse des Berichts stellt sie im April auf einer Sondersitzung des European Congress of Clinical Microbiology & Infectious Diseases (ECCMID 2023) in Kopenhagen vor.
Auch für die kommenden Jahre sind der WHO zufolge nur wenige Innovationen bei Antibiotika zu erwarten. „Nur 27 neue Antibiotika, die auf von der WHO als kritisch eingestufte Erreger abzielen, durchlaufen derzeit klinische Studien“, so Gigante. „Davon haben nur vier neue Wirkmechanismen. Bei den meisten handelt es sich nicht um neue Wirkstoffklassen, sondern um eine Weiterentwicklung bestehender Klassen.“ Nur zwei der derzeit in Entwicklung befindlichen Wirkstoffe zielen auf hochresistente Bakterien ab. Wann und ob diese Arzneimittel eine Marktzulassung erhalten, ist schwierig vorherzusagen, da sich selbst in der letzten Phase der klinischen Prüfung noch herausstellen kann, dass ein neues Medikament die Anforderungen an Sicherheit und Wirksamkeit nicht erfüllt.
Wettlauf mit Resistenzen
Besorgniserregend sind aus Sicht der WHO verschiedene neue Resistenzen. Unter anderem sind verschiedene Arten von Bakterien zunehmend in der Lage, ein Enzym namens Neu-Delhi-Metallo-Beta-Lactamase 1 (NDM-1) zu produzieren, dass ihnen ermöglicht, Carbapenem-Antibiotika abzubauen. Diese gelten bislang als Reserveantibiotika und werden eingesetzt, wenn andere Antibiotika versagen. Die neue Resistenz könnte auch diese letzte Verteidigungslinie unwirksam machen. Gefördert wird die Verbreitung von Resistenzen durch den weit verbreiteten unsachgemäßen Einsatz von Antibiotika. Während bei Antibiotika, die zwischen 1930 und 1959 auf den Markt kamen, durchschnittlich elf Jahre vergingen, bevor Bakterien dagegen resistent wurden, verkürzte sich diese Zeitspanne für Antibiotika, die zwischen 1970 und 2000 auf den Markt kamen, auf zwei bis drei Jahre.
Somit müssten eigentlich in immer höherem Tempo neue Antibiotika mit neuen Wirkmechanismen entwickelt werden. Ein Problem besteht jedoch darin, dass die Entwicklung neuer Antibiotika für Pharmaunternehmen wenig lukrativ ist. Anders als beispielsweise bei Medikamenten gegen Krebs oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen handelt es sich meist um kurzfristige Behandlungen, die den Herstellern wenig Geld einbringen. Hinzu kommt, dass die meisten neuen Antibiotika als Reserveantibiotika eingestuft werden, also nur zum Einsatz kommen, wenn andere Antibiotika versagen. Sieben der zwölf in den vergangenen Jahren neuzugelassenen Wirkstoffe wurden bereits als Reserveantibiotika klassifiziert, weitere befinden sich noch in der Evaluation. Dies senkt die Verdienstmöglichkeiten für die Entwickler weiter.
Investitionen und Zusammenarbeit erforderlich
„Uns fehlt ein nachhaltiges Wirtschaftsmodell für antibakterielle Innovationen“, sagt Venkatasubramanian Ramasubramanian, Präsident der Clinical Infectious Diseases Society of India, der beim ECCMID 2023 ebenfalls einen Vortrag halten wird. „Erschwerend kommt hinzu, dass die derzeit geprüften Produkte hauptsächlich auf die Anforderungen der Industrieländer zugeschnitten sind, was insbesondere in Entwicklungsländern mit hoher Resistenzbelastung zu einem Missverhältnis führt.“ Also Lösungsansätze schlägt er vor, klinische Studien in der Entwicklung neuer Antibiotika zu beschleunigen, öffentlich-private Partnerschaften zu schließen, mehr Geld in die Grundlagenforschung zu antimikrobiellen Mitteln zu investieren und weitere finanzielle Anreize für Pharmaunternehmen zu schaffen.
Auch Gigante sieht dringenden Handlungsbedarf: „Die rasche Zunahme multiresistenter Infektionen weltweit ist besorgniserregend“, sagt sie. „Die Zeit läuft uns davon, um neue Antibiotika auf den Markt zu bringen und diese Bedrohung der öffentlichen Gesundheit zu bekämpfen. Wenn wir nicht sofort handeln, laufen wir Gefahr, in eine Ära vor der Einführung von Antibiotika zurückzukehren, in der verbreitete Infektionen tödlich verlaufen. Mit verstärkten Investitionen und sektorübergreifender Zusammenarbeit können wir Fortschritte im Kampf gegen die Antibiotikaresistenz erzielen und sicherstellen, dass Patienten einen gerechten und weltweiten Zugang zu wirksamen Behandlungen für arzneimittelresistente bakterielle Infektionen haben.“
Quellen: European Congress of Clinical Microbiology & Infectious Diseases (ECCMID 2023, Copenhagen, 15. – 18. April 2023); WHO report