Umgebungslärm erschwert es selbst gut Hörenden, Sprache zu verstehen. Noch schwieriger wird es für scherhörige Menschen mit Hörgeräten. Ihr Hörsystem kann die für Sprache relevanten Laute nur unzureichend aus den Störgeräuschen herausfiltern. Eine ungewöhnliche Lösung dafür hat nun ein Forschungsteam entwickelt: Ein kleines, zwischen Daumen und Zeigefinger gehaltenes Vibrationsmodul löst Reize im Gehirn aus, die das Sprachverständnis fördern, wie erste Tests belegen. Dieser Ansatz könnte neue Möglichkeiten eröffnen, das Sprachverständnis von Schwerhörigen zu verbessern.
Störende Geräusche wie laute Musik, klirrendes Besteck im Restaurant oder Stimmengewirr machen es selbst gut hörenden Menschen schwer, dem Gegenüber im Gespräch zu folgen. “Sprache ist ein hochkomplexes akustisches Signal, für dessen Verstehen ähnlich komplexe hierarchische Verarbeitungsprozesse nötig sind”, erklären Pierre Guilleminot vom Imperial College London und Tobias Reichenbach von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. “Diese Prozesse umfassen die Aufteilung und Analyse von einzelnen Phonemen, Silben und Wörtern, um den semantischen Inhalt zu entschlüsseln.” Umso erstaunlicher ist es, dass unser Gehirn dies meist selbst bei starken Störgeräuschen leisten kann. Allerdings klappt dies bei schwerhörigen Menschen nicht mehr so gut: Gerade mit Hörgeräten haben sie oft große Schwierigkeiten, ihre Gesprächspartner in lauteren Umgebungen zu verstehen.
Vibrationsimpulse im Takt der Sprache
Auf der Suche nach einer Lösung für dieses Problem haben Guilleminot und Reichenbach einen auf den ersten Blick ungewöhnlichen Ansatz verfolgt: Sie haben untersucht, ob Vibrationspulse das Sprachverständnis verbessern können. Hintergrund ist die Theorie, nach der bei vielen Wahrnehmungen, darunter auch der Verarbeitung von Sprachlauten, multisensorische Aspekte eine Rolle spielen. Im Gehirn können sich demnach Reize verschiedener Sinneskanäle beeinflussen und sich so begünstigen oder stören. Um das zu überprüfen, haben die Forscher mit 19 Freiwilligen ein Hörexperiment mit Vibrationsunterstützung durchgeführt. Dafür bekamen die normal hörfähigen Testpersonen per Kopfhörer englische Sätze und Wörter inmitten dichter Störgeräusche vorgespielt.
Parallel dazu hielten alle Testpersonen ein kleines Gerät zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand. Dieses gab parallel zur gehörten Sprache leichte Vibrationsreize ab. Die Impulse waren mit der leichten Vibration vergleichbar, die beispielsweise viele Smartphone-Displays beim Berühren als taktiles Feedback abgeben. Die Vibrationsreize waren dabei so angepasst, dass sie jeweils passend zum Takt der Sprachsilben abgegeben wurden. In mehreren Durchgängen variierten die Forscher dabei die Verzögerung der Vibrationssignale und führten auch zusätzliche Testdurchläufe ohne oder mit willkürlich platzierten Impulsen durch.
Sprachverständnis verbessert
Die Tests ergaben: Wenn die taktilen Reize im Takt der Sprachsilben und ohne zeitliche Verzögerung erfolgten, verbesserten sie das Sprachverstehen der Probanden: “Das Verständnis der Sprache trotz Störgeräuschen verbessert sich dann um 6,3 Prozent verglichen mit den Pseudo-Impulsen”, berichten Guilleminot und Reichenbach. Dies bestätigte sich auch in Hirnstrommessungen während der Versuche: Die Hirnaktivität im auditorischen Kortex – erkennbar an im Takt der Silben auftretenden Wellenmustern – war während der Vibrationstests höher als in den Kontrollversuchen, wie das Team ermittelte. “Wir haben damit gezeigt, dass taktile Pulse, die dem Rhythmus der Sprachsilben folgen, das Verständnis des von Störgeräuschen unterlegten Sprachsignals beeinflussen und verbessern können”, schreiben die Forscher.
Nach Ansicht der Wissenschaftler könnte dies neue Möglichkeiten eröffnen, mithilfe von multisensorischen Hörhilfen schwerhörigen Menschen beim Verstehen von Sprache zu helfen. Noch muss dafür allerdings genauer untersucht werden, wie präzise die Vibrationssignale dafür dem Takt der Silben folgen müssen. Außerdem wollen Guilleminot und Reichenbach herausfinden, ob dieser taktile Reiz auch direkt am Ohr seine multisensorische Wirkung entfalten kann. Wäre das der Fall, könnte man die Vibrationsgeber direkt ins Hörgerät integrieren.
Quelle: Pierre Guilleminot (Imperial College London) und Tobias Reichenbach (Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg), Proceedings of the National Academy of Sciences, doi: 10.1073/pnas.2117000119