Im Großforschungsprojekt Human Cell Atlas arbeitet ein internationales Forschungskonsortium daran, alle Zellen des menschlichen Körpers detailliert zu kartieren. Während bisherige Veröffentlichungen auf einzelne Organe konzentriert waren, hat das Konsortium nun erstmals vier große gewebeübergreifende Zellatlanten veröffentlicht, die zusammen über eine Million einzelner Zellen aus 33 Gewebetypen umfassen. Die Ergebnisse zeigen, wie verschiedene Zelltypen das in ihnen vorhandene genetische Material unterschiedlich umsetzen, geben Aufschluss über die Eigenschaften der Immunzellen im Laufe der Entwicklung vom Fötus bis zum Erwachsenen und ermöglichen ein besseres Verständnis vieler Krankheiten.
Seit seiner Gründung im Jahr 2016 arbeitet das Human Cell Atlas (HCA) Konsortium daran, alle Zelltypen des menschlichen Körpers zu kartieren. Daran beteiligen sich mehr als 2.300 Forschende aus 83 Ländern der Welt. Alle Daten werden frei zugänglich veröffentlicht, sodass die Ergebnisse als Ressource für weitere Forschungen zur Verfügung stehen. Bisherige Publikationen fokussierten sich jeweils auf einzelne Gewebe und Organe. Damit lieferten sie bereits wichtige Erkenntnisse zum Verständnis von Aufbau und Funktionsweise der jeweiligen Organe. Gewebeübergreifende Analysen fehlten allerdings bisher.
Einzelzellen gewebeübergreifend kartiert
Nun haben Mitglieder des Konsortiums Zellen aus 33 verschiedenen Geweben detailliert kartiert. In vier Studien, die in der Fachzeitschrift Science veröffentlicht wurden, präsentieren sie ihre Ergebnisse. Den bisher umfassendsten gewebeübergreifenden Zellatlas liefert die erste Studie, für die das Tabula-Sapiens-Konsortium verantwortlich ist, eine Gruppe von mehr als 150 Forschenden. Für ihren Tabula-Sapiens-Zellatlas sequenzierten die Autoren das Transkriptom, also die für die Produktion von Proteinen ausgelesene RNA von fast 500.000 lebenden Zellen aus 24 verschiedenen Geweben. Sie gibt Aufschluss über die Genaktivität in den Zellen und Geweben.
Die Besonderheit dabei: „Um gewebeübergreifende Vergleiche zu ermöglichen, haben wir einen Ansatz entwickelt, bei der wir eine große Anzahl von Organen derselben Personen untersucht haben“, erklären die Autoren. Die Spender stammten aus verschiedenen ethnischen Gruppen, waren unterschiedlichen Alters und hatten vielfältige medizinische Hintergründe. „Die Tabula Sapiens ist ein Referenzatlas, aus dem die wissenschaftliche Gemeinschaft noch viele Jahre lang neue Erkenntnisse über die menschliche Biologie gewinnen wird“, sagt Stephen Quake von der Stanford University, einer der Leiter des Konsortiums.
Gleiche Gene unterschiedlich genutzt
Unter anderem zeigten die Autoren anhand der Daten, wie unterschiedlich die verschiedenen Zelltypen das genetische Programm umsetzen, mit dem sie ausgestattet sind. „Obwohl das Genom oft als Bauplan eines Organismus bezeichnet wird, ist es vielleicht zutreffender, es als eine Bauteil-Liste zu bezeichnen, die sich aus den verschiedenen Genen zusammensetzt, die in den verschiedenen Zelltypen eines mehrzelligen Organismus verwendet werden können oder nicht“, erklären die Autoren. „Obwohl fast jede Zelle im Körper im Wesentlichen das gleiche Genom besitzt, nutzt jeder Zelltyp dieses Genom auf unterschiedliche Weise und exprimiert eine Teilmenge aller möglichen Gene.“
Die Erkenntnisse darüber, wie dasselbe Gen in verschiedenen Zelltypen unterschiedlich aktiv werden kann, können in Zukunft auch helfen, wenn es darum geht, die Ursachen und Auswirkungen genetischer Krankheiten besser zu verstehen – ein wichtiger Anwendungsbereich von Zellatlanten. Ergänzend dazu stellt ein Team um Gökcen Eraslan vom Broad Institute in Cambridge in der zweiten Science-Studie eine neue Methode vor, mit der sich auch gefrorene Gewebeproben auf Einzelzellebene kartieren lassen. „Unsere Studie öffnet den Weg für Untersuchungen von Geweben ganzer Patientenkohorten auf Einzelzellebene“, sagt Aviv Regev, einer der beiden Vorsitzenden des HCA-Konsortiums. „Wir waren in der Lage, eine neue Routenkarte für mehrere Krankheiten zu erstellen, indem wir Zellen direkt mit der Biologie menschlicher Krankheiten und mit krankheitsanfälligen Genen in verschiedenen Geweben in Verbindung brachten.“
Atlas der Immunzellen
Die dritte und vierte Studie beschäftigen sich näher mit Immunzellen in verschiedenen Gewebetypen. „Die meisten Studien zur menschlichen Immunität konzentrieren sich auf Zellen, die aus dem Blut stammen“, erläutern die Forscher. „Doch auch Immunzellen, die peripheres Gewebe besiedeln, spielen eine wichtige Rolle bei Gesundheit und Krankheit.“ Ein Team um Cecilia Domínguez Conde vom Wellcome Sanger Institute in Cambridge sequenzierte daher die RNA von rund 330.000 Immunzellen aus verschiedenen Teilen des Körpers.
„Durch den Vergleich bestimmter Immunzellen in verschiedenen Geweben von denselben Spendern haben wir unterschiedliche Arten von T-Gedächtniszellen in verschiedenen Körperbereichen identifiziert, was große Auswirkungen auf das Management von Infektionen haben könnte“, sagt Condes Kollegin Sarah Teichmann, die gemeinsam mit Regev das HCA-Konsortium leitet. Die Forscher entwickelten zudem ein Programm, das mit Hilfe von maschinellem Lernen verschiedene Arten von Immunzellen automatisiert erkennen kann.
Entwicklung vom Fötus bis zum Erwachsenen
Ergänzend kartierte ein Team um Condes Kollegin Chenqu Suo die Zellen des sich entwickelnden Immunsystems von Föten während verschiedener Schwangerschaftsstadien. „Dieser umfassende Atlas der menschlichen Immunentwicklung zeigt Gewebe auf, die an der Bildung von Blut- und Immunzellen beteiligt sind, was unser Verständnis von Immun- und Blutkrankheiten verbessert“, sagt Suos Kollegin Muzlifah Hannifa. „In Zusammenarbeit mit den anderen Studien ermöglicht er die Kartierung des Immunsystems von der Entwicklung bis zum Erwachsenenalter und zeigt Zelltypen auf, die im Laufe des Erwachsenwerdens verloren gehen. Sie trägt auch dazu bei, die Forschung in den Bereichen Zelltechnik und regenerative Medizin zu unterstützen.“
In einem begleitenden Kommentar zu den Studien, der ebenfalls in Science veröffentlicht wurde, schreiben Zedao Liu und Zemin Zhang von der Universität Peking, dass die gewebeübergreifenden Zellatlanten wichtige Referenzdatensätze bilden, die auch in der medizinischen Forschung Anwendung finden können, etwa wenn es darum geht, mögliche Nebenwirkungen neuer Arzneimittel schon vor den ersten klinischen Studien vorauszusagen. „Zusammengenommen bringen uns diese gewebeübergreifenden Studien dem Aufbau eines umfassenden menschlichen Einzelzellatlasses näher“, schreiben sie.
Quellen: The Tabula Sapiens Consortium, Science, doi: 10.1126/science.abl4896; Gökcen Eraslan (Broad Institute of MIT and Harvard, Cambridge) et al., Science, doi: 10.1126/science.abl4290; Cecilia Domínguez Conde (Wellcome Sanger Institute, Cambridge) et al., Science, doi: 10.1126/science.abl5197; Chenqu Suo (Wellcome Sanger Institute, Cambridge) et al., Science, doi: 10.1126/science.abo0510